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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0079
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

i. Biologische Eigenschaften des Menschen
Was ist der Unterschied von Mensch und Tier? Man antwortet: Der aufrechte Gang, -
das große Hirngewicht, die dem entsprechende Schädelform und die hohe Stirn, - die
Entwicklung der Hand, - die Nacktheit, - nur der Mensch kann lachen und weinen, -
usw. Obgleich als Gestalt morphologisch unter die zoologischen Lebensformen ein-
zureihen, ist der Mensch doch vielleicht auch körperlich schon einzigartig. Sein Leib
ist Ausdruck der Seele. Es gibt die spezifische Schönheit des Menschenleibes. Aber
objektiv zwingend und begrifflich klar nachweisbar ist diese Einzigkeit des Menschen-
leibes bisher nicht, nicht grundsätzlich, nur in Einzelphänomenen, die als solche
nicht zu dem Gesamturteil berechtigen.
Am ehesten gilt das Allgemeine: Die Tiere entwickeln ausnahmslos für bestimmte
Aufgaben geeignete Organe in Beziehung auf Besonderheiten bestimmter, ihr Leben
beschränkender Umwelten. Diese Organspezialisierung macht sie alle irgendwo dem
5P Menschen durch besondere Leistungsfähigkeiten über-|legen. Aber diese Überlegen-
heit bedeutet je zugleich Verengung. Der Mensch ist allen solchen Spezialisierungen
in seinen Organen ausgewichen. Daher die Unterlegenheit zwar in jedem einzelnen
Organ, aber die Überlegenheit gleichsam durch bewahrte Möglichkeiten, durch das
Unspezialisierte. Er ist durch seine Unterlegenheit gezwungen und durch seine Über-
legenheit befähigt, vermöge seines Bewußtseins auf ganz anderem Wege als alle Tiere
sein Dasein zu verwirklichen. Dadurch, nicht durch den Leib, ist er für alle Klimate
und Zonen, für alle Situationen und Umwelten bereit.
Wenn der Mensch schon in seinem Ursprung ein Wesen sein muß, das jeder end-
giltigen Fixierung ausweicht, so hat er in seiner Schwäche gegenüber den Tieren die
Überlegenheit durch Denken und Geist. Vermöge des Ausbleibens der Organspezia-
lisierungen blieb er offen für Möglichkeiten seiner Umweltbildung, in der die Or-
gane durch Werkzeuge ersetzt werden. Weil der Mensch (im Vergleich zu den Tie-
ren) brüchig ist, kann er durch Freiheit in den Gang eines geistigen Sichverwandelns
eintreten zu unabsehbarer Steigerung. Er wurde, statt wie Tiere nur den natürlichen
Kreislauf des Lebens ins Endlose gleichbleibend zu wiederholen, fähig zur Ge-
schichte. Die Natur hat Geschichte nur als ein bewußtloses, an menschlichen Maß-
stäben gemessen unendlich langsames, unumkehrbares Anderswerden. Der Mensch
vollzieht Geschichte auf dem Boden seines wie alles Leben sich nur wiederholenden
Naturseins (das in den geschichtlich übersehbaren Zeiten sich gleich geblieben ist)
als bewußte schnelle Verwandlung durch die freien Akte und Schöpfungen seines
Geistes.
Biologisch lassen sich Tatbestände fixieren, die zwar den Menschen von den Tie-
ren zu unterscheiden scheinen, aber in der Ebene des nicht spezifisch Menschlichen
bleiben, z. B.:
Es gibt biologische Krankheitsanlagen, wie die nur beim Menschen, aber bei allen
Menschenrassen vorkommenden Psychosen.
 
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