Metadaten

Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0093
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
6o

Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

343

344

Erst recht ist uns jene Unterscheidung nicht anwendbar auf den Unterschied zwischen China
und Indien einerseits und dem Abendland andrerseits. Ist man sich des geistigen Umfangs und
der Tiefe der Achsenzeit bewußt geworden, so kann man nicht die Parallele beibehalten: Ägyp-
ten, | Babylonien, Indien, China, - denen allen gegenüber das griechisch-jüdisch begründete
Abendland als das allein neue gilt. Vielmehr gehört die Achsenzeit ja gerade auch in die indische
und die chinesische Welt.
China und Indien, die wir kennen, sind aus der Achsenzeit geboren, nicht primär, sondern
schon sekundär, geistig in dieselbe Tiefe vorgestoßen, wie das Abendland, wie es in Ägypten und
Babylonien so wenig geschehen ist, wie in den indischen und chinesischen Urkulturen (die wir
aus nur sehr geringen Befunden zwar sicher in ihrer Existenz, aber nicht anschaulich in der Breite
wie Ägypten und Babylonien kennen). Daher sind China und Indien im Ganzen nicht als Primär-
kulturen neben Ägypten und Babylonien zu stellen. China und Indien sind beides. Sie sind in ih-
ren Anfängen den Primärkulturen zu vergleichen, dann aber sind sie, nach dem Durchbruch der
Achsenzeit, Parallelen zu den sekundären Kulturen des Abendlandes. Die Parallelisierung Ägyp-
tens und Mesopotamiens mit Indien und China ist treffend nur für die faktische Gleichzeitigkeit.
Von der Achsenzeit an sind China und Indien nicht mehr mit den alten Hochkulturen in Paral-
lele zu setzen, vielmehr sinnvoll allein mit der Achsenzeit des Abendlandes. Ägypten und Baby-
lonien haben keine Achsenzeit hervorgebracht.
Alfred Webers Geschichtsaufbau hält sich an den Grundsatz: »im Rahmen der Betrachtung des
Totalgeschehens ist das Aufwachsen und Sichablösen von geschlossenen Gesamtkulturen darzu-
stellen«. Daher verwirft er ausdrücklich ein Operieren mit Weltzeitaltern, die er für »entleerte Per-
spektiven« hält. Aber seine undogmatische Haltung und sein heller historischer Blick sehen auch
dasselbe wie wir. Wie ein Fragment aus einem anderen Geschichtsaufbau steht in seinem Werk
eine Stelle, die wir zitieren können als Kronzeugen für unsere Auffassung. Sie bleibt bei ihm bei-
läufig und ohne Folgen:
»Vom 9. bis zum 6. Jahrhundert v. Chr. gelangen die drei inzwischen herausgebildeten Kultur-
sphären der Welt, die vorderasiatisch-griechische, die indische und die chinesische in merkwürdi-
ger Gleichzeitigkeit, anscheinend unabhängig voneinander, zu universell gerichtetem religiösem
und philosophischem Suchen, Fragen und Entscheiden. Sie entfalten von diesem Ausgangs-
punkt an seit Zoroaster, den jüdischen Propheten, den griechischen Philosophen, seit Buddha,
seit Laotse und Konfuzius in einem synchronistischen Weltzeitalter diejenigen religiösen und
philosophischen Weltdeutungen und Haltungen, die, fort- und umgebildet, zusammengefaßt,
neugeboren oder in gegenseitiger Beeinflussung transformiert und reformiert, die weltreligiöse
Glaubensmasse und die philosophische Deutungsmasse der Menschheit bilden, zu deren religiö-
sem Teil seit dem Ende dieser Periode, d. h. seit dem r6. Jahrhundert, nichts grundlegend Neues
mehr hinzugetreten ist.«
Alfred Webers Deutung der Wirkung der Reitervölker zeigt einen Grund der Entstehung der Se-
kundärkulturen im Abendland (die wir Achsenzeit nennen), aber zugleich den Grund der geisti-
gen Umwälzungen in China und Indien, die er trotzdem im Bereich der Primärkulturen beläßt.
| Alfred Weber schildert in der Tat die tiefen Einschnitte in Indien und China, die zunächst We-
sensveränderungen wie im Abendland bedeuten: den ursprünglichen Buddhismus in Indien, die
damals geschehende Umwandlung des Magisch-Metaphysischen in Ethizismus durch den Jainis-
mus und durch Buddha, - und in China die Verwandlung durch den Buddhismus. Aber er hält für
entscheidend, daß das Magische sich wiederherstellt, daß es sich nicht um »Grundverwandlun-
gen«, sondern um »Anverwandlungen« an das Ewige und Unveränderliche handle, in das China
ebenso wie Indien eingehüllt war. Die Herrschaft eines obersten Unveränderlichen soll Asien vom
Abendland unterscheiden.
Ist hier wirklich ein radikaler Unterschied? Ist nicht gerade auch hier ein Gemeinsames, das als
die ständige Gefahr für uns alle angesprochen werden kann, nämlich aus dem Aufschwung ins
Unmagische, Menschliche, Vernünftige, über die Dämonen zu Gott, am Ende wieder zurückzu-
sinken ins Magische und Dämonologische?
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften