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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0094
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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erfaßbaren Wesen ihrer seelischen Haltung (Hegel nennt es das nördliche Gemüt) zu
einer eigenständigen Substanz gelangt, als die geistige Welt der Achsenzeit sie traf.
b. Die Weltgeschichte nach dem Durchbruch
Seit der Achsenzeit sind Zwei jahrtausende abgelaufen. Die Konsolidierung in Weltrei-
chen war keine endgiltige. Sie brachen zusammen; es folgten einander - in allen drei
Bereichen - Zeitalter kämpfender Staaten, Zeitalter der Zerrüttung, der Völkerwande-
rung, ephemerer Eroberungen und neuer, wiederum bald verschwindender Augen-
blicke höchsten Kultur schaffens. Neue Völker treten in die drei großen Kulturkreise ein,
im Abendland die Germanen und Slaven, in Ostasien die Japaner, Malaien, Siamesen,
und brachten ihrerseits neue Gestaltungen hervor. Aber sie taten es in Auseinanderset-
zung mit der überlieferten hohen Kultur durch deren Aneignung und Umgestaltung.
Die Germanen begannen ihre geistige Weltsendung erst jetzt, als sie an jener Revo-
lution des Menschseins Anteil gewannen, die ein Jahrtausend früher begonnen hatte.
Seit dem Augenblick, daß sie sich auf diese Welt beziehen, beginnen sie eine neue Be-
wegung, in der sie heute als die germanisch-romanische Welt Europas noch stehen. Es
begann ein geschichtlich wieder einzigartiges Phänomen. Was die Antike nicht mehr
vermochte, geschah nun. Das Äußerste an Spannungen des Menschseins, die Hellig-
keit der Grenzsituationen, alles, was in der Durchbruchszeit begonnen hatte, in der
Spätantike aber fast versank, wurde jetzt noch einmal in gleicher Tiefe, vielleicht in
größerer Weite, vollzogen, zwar nicht zum erstenmal und nicht aus eigenem, aber ur-
sprünglich im Zusammentreffen mit dem, was nun als sich selbst eigen erfahren
wurde. Es begann ein neuer Versuch dessen, was dem Menschen möglich ist.
| Im Vergleich zu China und Indien scheint es im Abendland viel mehr dramati-
sche Neuanfänge zu geben. Bei einer geistigen Kontinuität, die für Zeiten schwach
wird, tritt eine Folge ganz verschiedener geistiger Welten auf. Die Pyramiden, der Par-
thenon, die gotischen Dome - solche Verschiedenheiten gibt es als geschichtliche Auf-
einanderfolge in China und Indien nicht.
Doch ist in Asien von Stabilität keine Rede. Es gibt in China und Indien schweigsame
Jahrhunderte wie bei uns die der Völkerwanderungszeit, in denen alles im Chaos zu ver-
schwinden scheint, um nachher eine neue Kultur entstehen zu lassen. Auch in Asien -
in Indien und China - gibt es die geographischen Verlagerungen der Kulturgipfel und
politischen Zentren, wechseln die die Bewegung tragenden Völker. Der Unterschied zu
Europa ist kein radikaler. Es bleibt die große Analogie: Schöpferische Epoche der Ach-
senzeit, in der Folge Umwälzungen und Renaissancen, bis Europa seit 1500 seine uner-
hörten Schritte tut, während China und Indien gerade damals kulturell niedergehen.
Nachdem der Durchbruch der Achsenzeit geschehen ist, der in ihm erwachsene
Geist durch Gedanke, Werke, Gestalten sich jedem mitteilt, der hören und verstehen
kann, und unendliche Möglichkeiten fühlbar geworden sind, sind alle nachkommen-

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