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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0112
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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Darum könnte man dieser zweiten Achse den Vorrang geben, weil sie in der Bildungs-
kontinuität selber wieder ursprünglich, auf den Schultern der früheren doch weiter
blickend, den größeren Umfang und die größere Tiefe erreichte. Aber man muß sie in
zweite Linie rücken, weil sie nicht allein aus sich selber lebte, außerordentliche Ver-
zerrungen und Verkehrungen erlitt und duldete. Sie ist unser unmittelbarer geschicht-
licher Grund. Wir sind abwechselnd im Kampf und in nächster Nähe zu ihr, vermö-
gen sie nicht in der ruhigen Ferne der ersten Achse zu sehen. Vor allem aber ist sie eine
rein europäische Erscheinung und schon darum nicht als zweite Achse anzusprechen.
Jene Jahrhunderte sind für uns Europäer wohl die gehaltvollste Zeit, das uns uner-
läßliche Bildungsfundament, die reichste Quelle unserer Anschauungen und Einsich-
ten, aber sie bedeuten keine menschheitliche, weltumspannende Achse, und es ist un-
wahrscheinlich, daß sie dazu in der Folge noch werden könnten. Zu einer ganz anderen
Achse wird das Tun der Europäer mit den Folgen von Wissenschaft und Technik, die
erst eintreten, als das Abendland geistig-seelisch schon zurückgeht und auf ein geistig-
seelisch auf ihren Tiefpunkt gelangtes China und Indien stößt.
Am Ende des 19. Jahrhunderts schien Europa die Welt zu beherrschen. Man hielt es für
endgültig. Hegels Wort schien bestätigt zu sein: »Die Welt ist umschifft und für die Eu-
ropäer ein Rundes. Was noch nicht von ihnen beherrscht wird, ist entweder nicht der
Mühe wert oder noch bestimmt, beherrscht zu werden.«38
Welche Verwandlung seitdem! Die Welt ist europäisch geworden durch Aufnahme
europäischer Technik und europäischer nationaler Forderungen, und wendet beides
mit Erfolg gegen Europa. Europa ist, als das alte Europa, nicht mehr beherrschender
Weltfaktor. Es ist abgetreten, überflügelt durch Amerika und Rußland, von deren Po-
litik das europäische Schicksal abhängt, - wenn Europa nicht im letzten Augenblick
sich zusammenfindet und stark genug wird, sich in Neutralität zu halten, wenn ein
neuer Weltkrieg den Planeten in die vernichtenden Stürme bringt.
| Vom Geist Europas zwar sind auch Amerika und Rußland durchdrungen, aber sie 105
sind nicht Europa. Die Amerikaner haben (obgleich europäischer Abkunft) ein neues
Eigenbewußtsein und aus ihrem Boden einen neuen Ursprung, wenn nicht gefunden,
so doch in ihrem Anspruch. Die Russen haben einen geschichtlich eigenen Grund im
Osten, aus der Menschenart ihrer europäischen und asiatischen Völker, geistig aus
Byzanz.
China und Indien aber, heute noch keine entscheidenden Mächte,39 werden in ih-
rer Bedeutung wachsen. Diese großen Bevölkerungsmassen mit einer tiefen, unersetz-
lichen Überlieferung werden ein Element der Menschheit, - gemeinsam mit allen an-
deren Völkern, die in der gegenwärtigen Verwandlung des Menschseins, in die alle
hineingezwungen werden, ihren Weg suchen.
 
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