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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0111
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

Die Hauptschritte dahin sind: Die prophetische Religion der Juden befreite von Ma-
gie, dinghafter Transzendenz in einer Radikalität, wie es sonst nirgends auf der Erde
geschehen ist, wenn auch nur für einen geschichtlich begrenzten Augenblick und für
wenige Menschen, aber sprechend im Buch für alle Folgenden, die zu hören vermoch-
ten. - Die Griechen schufen eine Klarheit der Unterscheidungen, eine Plastik der Ge-
stalten, eine Konsequenz des Rationalen, die vorher nirgends in der Welt sonst erreicht
worden ist. - Das Christentum verwirklichte das Innewerden der äußersten Transzen-
denz - wie es auch Indien und China gelungen ist -, aber mit dem Unterschied, daß
das Christentum diese Verwirklichung an die Welt der Immanenz fesselte und dadurch
die ständige Unruhe in der Aufgabe der christlichen Weltgestaltung bewirkte.
103 | Aber der große Bruch erfolgte doch erst seit dem Spätmittelalter. Jene Schritte und
die Erinnerung an sie mochten Vorbedingungen sein. Der Bruch selbst ist das große
neue Rätsel. Es ist keineswegs eine durchsichtige, gradlinige Entwickelung. Als die Vor-
stufen moderner Wissenschaft im spätmittelalterlichen Nominalismus erwuchsen,
fanden doch schon bald und gleichzeitig die Orgien des Hexenwesens statt. Wie sich
in der Folge die Wirklichkeit des Menschen veränderte, während er Wissenschaft und
Technik, Macht über die Naturkräfte und die Eroberung des Erdballs gewann, steht in
einem schauerlichen Kontrast zu diesen greifbaren Leistungen.
Die die gesamte historische Vergangenheit von der noch verschleierten Zukunft
trennenden Schritte wurden endgültig erst im 19. Jahrhundert getan. Immer wieder
erhebt sich die Frage: Was ist das, was vielleicht von Anfang an spürbar, immer wieder
hervortretend, dann zeitweise scheinbar erlahmend, Europas Charakter als Gestalter
der Erde ausmacht? Was seit den Nominalisten als Wissenschaft sich entwickelt, seit
dem 15. Jahrhundert auf dem Planeten sich ausbreitet, seit dem 17. Jahrhundert in die
Breite wirksam, im 19. Jahrhundert endgültig wird?
Die außerordentlichen, Wissenschaft und Technik überstrahlenden geistigen Schöp-
fungen Europas von 1500-180037 - Michelangelo, Raffael, Lionardo, Shakespeare, Rem-
brandt, Goethe, Spinoza, Kant, Bach, Mozart - fordern zu einem Vergleich mit der Ach-
senzeit vor zweieinhalb Jahrtausenden heraus. Ist in diesen neueren Jahrhunderten
eine zweite Achse zu erblicken?
Der Unterschied ist beträchtlich. Die Reinheit und Klarheit, die Unbefangenheit
und Frische der Welten der ersten Achse ist nicht noch einmal da. Zu sehr steht alles
im Schatten der fordernden Überlieferungen, gerät auf Schritt und Tritt in schiefe
Wege, auf denen eine Richtung zum wunderbarsten Gelingen in jenen Großen, den
Einsamen wie trotzdem gelingt. Dafür hat aber diese zweite Achse Möglichkeiten, die
die erste nicht hatte. Weil sie Erfahrungen übernehmen, Gedanken aneignen konnte,
ist sie von vornherein sowohl vieldeutiger als reicher. Gerade in den Zerrissenheiten
104 hat sie Tiefen des Menschseins offenbar werden | lassen, die vorher nie sichtbar waren.
 
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