Metadaten

Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0121
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
88

Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

116 | Die Fähigkeit, sich von der Abrundung und Totalisierung eines Wissens immer
wieder zu befreien, macht die zunächst paradoxesten Versuche neuer Hypothesen
möglich, wie in der modernen Physik. Eine unerhörte Unbefangenheit des Versuchens
wurde in Höhepunkten möglich. Die Frage geht noch einmal an jede Frage. Immer
noch einmal wird nach unbemerkten Voraussetzungen gefragt. Und es werden im Spiel
des vorbereitenden Erkennens die kühnsten Voraussetzungen versucht.
6) Man kann versucht sein, bestimmte Kategorien in ihrer Auswirkung als charakte-
ristisch für moderne Wissenschaft anzusehen:
So das Unendliche als Grund der Antinomien, als Problem, das feinster Differen-
zierung zugänglich, am Ende immer das Scheitern des Denkens zeigt.
So die Kausalkategorie, die nicht, wie bei Aristoteles nur zu einer Subsumtion der
Erscheinungen unter die sauber bestimmten Modi der Kausalität und zu einer endgül-
tigen Erklärung im Ganzen, sondern zu realer Untersuchung führt in immer bestimm-
ten und partikularen Fragestellungen. Die Antwort auf die Frage erfolgt im griechi-
schen Denken durch Überlegung und Plausibilität, im modernen durch Versuchen
und fortschreitendes Beobachten. Eine Untersuchung heißt im alten Denken schon
ein bloßes Nachdenken, im modernen erst ein Tun.
Aber keine Kategorie und kein Gegenstand sind das Charakteristische der moder-
nen Wissenschaft, sondern die Universalität im Herausarbeiten der Kategorien und Me-
thoden. Was mathematisch, physikalisch, biologisch, hermeneutisch, spekulativ mög-
lich scheint, jede Form wird versucht, jeder Gegenstand ergriffen. Eine grenzenlos
erweiterbare Kategorienwelt und eine entsprechend ungeschlossene Kategorienlehre
sind die Folge.
Die Angemessenheit von Kategorien und Methoden wird das Problem, nicht der
Vorzug irgendeiner. Wo es sich um Realität handelt, wird Erfahrung selbst verläßlich
bestimmt. Wo Spekulation gehörig ist, wird diese mit dem Wissen um ihren Sinn sou-
verän vollzogen. Verwechslungen zu vermeiden, ist das Entscheidende.
7) In der modernen Welt ist eine wissenschaftliche Haltung möglich geworden, die in al-
117 lern, was begegnet, alsbald fragen, | untersuchen, prüfen und überlegen kann aus umfas-
sender Vernunft. Diese Haltung wird nicht wissenschaftsdogmatisch, schwört nicht auf
Ergebnisse und Grundsätze, nimmt Abstand von allen Sekten, Glaubens- und Überzeu-
gungsgemeinschaften, um in der Wissenschaft den Raum des Erkennbaren frei zu halten.
Die wissenschaftliche Haltung43 unterscheidet das zwingend Gewußte vom nicht
zwingend Gewußten, will zugleich mit der Erkenntnis das Wissen um die Methode,
damit um Sinn und Grenzen dieses Wissens haben, sucht uneingeschränkte Kritik. Sie
drängt zur Klarheit des Bestimmten gegen das Ungefähre des allgemeinen Redens, ver-
langt Konkretheit des Begründens.
Wahrhaftigkeit des Menschen ist bedingt durch Wissenschaftlichkeit, wenn Wis-
senschaft einmal wirklich geworden ist. Daher ist sie ein Element der Menschenwürde
und hat sie den Zauber des Hellwerdens der Welt. Daher kennt sie aber auch die Qual,
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften