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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0123
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

kenntnis, besonders durch spezielle Sammlungen (etwa von Flechten u. a.), durch
besondere Geschicklichkeiten, sportartige Konkurrenz. Durch Absicht und ohne Ab-
sicht scheint eine alles, was es gibt, umfassende Arbeit vieler Menschen an einem im
119 Grunde unbekannten Ziel des Erkennens mitzuwirken. Erstaunlich ist das | Auftreten
von Forschern unter völlig verschiedenen Bedingungen, in Italien, Deutschland, Eng-
land, Frankreich. Forscher kamen aus entfernten Winkeln, aus eigenem Recht und ei-
genem Willen Aufgabe und Weg ergreifend, neue geistige Möglichkeiten begründend,
- es ist die Frage: warum gab es in diesem Europa immer wieder solche Einzelne, von-
einander Unabhängige, die sich trafen? - Warum blieben sie in Spanien, später in Ita-
lien, lange in Deutschland aus?
Soziologische Untersuchung wird einige Zusammenhänge aufdecken können. Fra-
gen wir weiter nach den Motiven, die zu der modernen Wissenschaft geführt haben
können.
Oft ist gesagt worden, die moderne Wissenschaft entspringe dem Machtwillen. Na-
turbeherrschung, Können, Nutzen, »Wissen ist Macht«, das gilt seit Bacon.44 Er und
Descartes45 entwerfen eine technische Zukunft. Nicht grobe Gewalt zwar hilft gegen
die Natur, sondern die Erkenntnis ihrer Gesetze. Natura parendo vincitur. Eigentliche
Erkenntnis ist eine solche, die ihren Gegenstand hervorbringt und dadurch die Er-
kenntnis bewährt: »Ich erkenne nur, was ich machen kann.« Ein Schöpfungsbewußt-
sein des Könnens beflügelt diese Erkenntnis.
In solcher Deutung modernen Wissens ist zweierlei zu unterscheiden. Erstens: Das
Machtbewußtsein, das im technischen Willen, im Bezwingen der Dinge sich äußert,
auf das Ziel eines Könnens geht. - Zweitens: Der Erkenntniswille, der durchschauen
will, wie die Natur verfährt. Der Forscher ist der Mann, der die Zeugen abhört (Kant).
Es ist ein reiner Erkenntniswille auch ohne technischen Zweck.
In beidem liege das Aggressive, so hat man gemeint. Denn das noch nicht auf tech-
nische Macht abgestellte Erkennen dieser Art sei nicht das Schauen, Sichhingeben und
Sicheinfügen des eigentlichen, liebenden Erkennens, sondern es sei schon ein Kämp-
fen und Bezwingen gegenüber dem Seienden, woraus das Verfügen sachgemäß folge.
Dem ist nun durchaus zu widersprechen, schon aus der Anschauung der Seelen-
haltung der großen Forscher: Ihnen eignet ein Sinn für Notwendigkeit. Sicheinfügen
in die Natur ist gerade ein Ethos des Naturforschers gewesen. Aber er will wissen, was
120 sie tut und was geschieht. Denn etwas ganz anderes als Aggressivität und Machtwille
ist dieser Wille zum Wissen, diese Freiheit des Wissenden, der nicht blind, sondern se-
hend erleidet, duldet und lebt. Das ist ein Wille zur Macht nicht als Herrschaft, son-
dern als innere Unabhängigkeit. Diese Freiheit des Bewußtseins des Wissenden ver-
mag gerade die Tatsächlichkeit rein zu ergreifen als echte Chiffre des Seins. - Nicht
Aggressivität liegt in dem Ethos des zwingenden, allgemeingiltigen Wissens - im Un-
terschied vom Plausiblen, Ungefähren, Fließenden, schließlich Beliebigen -, sondern
Wille zur Klarheit und Verläßlichkeit.
 
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