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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0125
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92 Vom Ursprung und Ziel der Geschichte
wie ein Nachdenken der Gedanken Gottes. Und Gott ist - nach Luthers Wort - als
Schöpfer auch im Darm einer Laus gegenwärtig. Der Grieche bleibt stecken in geschlos-
senen Weltbildern, in der Schönheit seines gedachten Kosmos, in der logischen Durch-
sichtigkeit des gedachten Ganzen; er läßt sich entweder alles in Schematen von Stu-
fen und Ordnungen gruppieren, oder er läßt durch Syllogismen das Gedachte sich in
Zusammenhänge schließen, oder er begreift ein ewiges gesetzliches Geschehen. Nicht
nur Aristoteles und Demokrit, sondern auch Thomas46 und auch Descartes' gehorchen
diesem wissenschaftslähmenden griechischen Antrieb zur geschlossenen Gestalt.
Ganz anders der neue Antrieb, der sich dem All des Geschaffenen ohne Grenzen of-
fenhalten will. Aus ihm drängt das Erkennen gerade auf dasjenige Wirkliche, das mit
122 den bis dahin | gefundenen Ordnungen und Gesetzen nicht stimmt. Im Logos selbst
erwächst der Drang, sich ständig zum Scheitern zu bringen, aber nicht, um sich preis-
zugeben, sondern um sich in neuer, erweiterter, erfüllterer Gestalt zurückzugewinnen,
und diesen Prozeß in eine unerfüllbare Unendlichkeit fortzusetzen. Diese Wissenschaft
entspringt dem Logos, der sich nicht in sich schließt, sondern dem Alogon aufgeschlos-
sen in dieses selbst eindringt dadurch, daß er sich ihm unterwirft. Die ständige - nie
aufhörende - Wechselwirkung zwischen Entwurf der theoretischen Konstruktion und
experimenteller Erfahrung ist das einfache und große Beispiel und Symbol dieses uni-
versalen Prozesses aus der Zündung zwischen dem Logos und dem Alogon.
Dem neuen Erkenntnisdrang ist die Welt auch nicht mehr schlechthin schön.
Diese Erkenntnis geht auf das Schöne und auf das Häßliche, auf das Gute und auf das
Schlechte. Zwar gilt am Ende: Omne ens est bonum, nämlich als Geschaffensein durch
Gott. Dieses Gutsein ist aber nicht mehr die griechische, sichtbare und sich genügende
Schönheit, sondern es ist nur gegenwärtig in der Liebe zu allem Daseienden als von
Gott Geschaffenem, infolgedessen auch im Zutrauen zum Sinn der Forschung; das
Wissen um das Geschöpfsein alles Weltlichen gibt die Ruhe vor den Abgründen der
Wirklichkeit in der Unruhe des grenzenlos infragesteilenden und damit vorandrin-
genden Forschens.
Das erkannte und erkennbare Weltsein ist als Geschaffensein aber doch ein Sein
zweiten Ranges. Daher ist die Welt an sich bodenlos, denn sie hat ihren Grund in ei-
nem Andern, im Schöpfer, sie ist an sich nicht geschlossen und daher auch nicht in
sich schließbar für die Erkenntnis. Das Weltsein läßt sich nirgend als endgiltige, abso-
lute Wirklichkeit fassen, weist stets auf ein anderes.
Der Schöpfungsgedanke macht das Geschaffene als von Gott geschaffen liebens-
wert und ermöglicht dadurch eine vorher nicht da gewesene Wirklichkeitsnähe. Aber
er erzeugt zugleich die größte Distanz zu dem Sein, das doch nur Geschaffensein, nicht
das Sein selbst, nicht Gott ist.

Meine Schrift: Descartes und die Philosophie, Berlin 1937, Französische Übersetzung Descartes et la
Philosophie, Paris 1938.
 
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