Metadaten

Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0129
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
96

Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

Mensch als solcher weiß zumeist gar nicht, was Wissenschaft ist, hat nicht eigent-
lich erfahren, was zu ihr treibt. Selbst die Forscher, die auf ihrem Fachgebiet noch
Entdeckungen machen, - unbewußt eine von anderen Mächten in Gang gebrachte
Bewegung eine Weile fortsetzend -, wissen oft nicht, was Wissenschaft ist, und ver-
raten es in ihrem Verhalten außerhalb jenes kleinen Gebietes, in dem sie noch Mei-
ster sind. Moderne Philosophen reden über Wissenschaft, als ob sie sie kennten, und
lassen sie dann gar zu einer historisch vorübergehenden Irrung der Weltanschau-
ung werden. Selbst Philosophen von der Größe Hegels wissen kaum etwas von dieser
Wissenschaft.
II. Die moderne Technik
Heute ist das Bewußtsein uns allen gemeinsam, an einer Wende der Geschichte zu ste-
hen, die man vor hundert Jahren noch mit dem Untergang der antiken Welt verglich,
dann aber tiefer und tiefer spürte als das große Verhängnis nicht nur Europas oder des
Abendlandes, sondern der Welt. Es ist das technische Zeitalter mit allen Konsequen-
zen, die nichts bestehen zu lassen scheinen, was der Mensch sich in Jahrtausenden an
Arbeitsweisen, Lebensform, Denkungsart, an Symbolen erworben hat.
Der deutsche Idealismus Fichtes,49 Hegels und Schellings50 interpretierte die eigene
Zeit als die tiefste Geschichtswende, und zwar durch Auffassung der christlichen Ach-
senzeit, die nun erst zur endgültigen Wende oder Vollendung führe. Es war der Über-
mut einer geistigen Selbsttäuschung. Jetzt dürfen wir vergleichend mit Bestimmtheit
sagen: die Gegenwart ist keine zweite Achsenzeit. Vielmehr in schärfstem Kontrast zu
dieser ist sie ein katastrophales Geschehen zur Armut hin an Geist, Menschlichkeit,
Liebe und Schöpferkraft, wobei nur eines, die Produktion von Wissenschaft und Tech-
nik allerdings auch im Vergleich zu allem Früheren einzig groß ist.
128 | Aber was für eine Größe ist das? Wir verstehen das Glück der Entdecker und Erfin-
der, wir sehen sie zugleich als Funktionäre in der Kette eines im Grunde anonymen
Schöpfungsprozesses, in der ein Glied ins andere sich fügt und die Beteiligten nicht
als Menschen, nicht in der Größe einer allumfassenden Seele wirken. Trotz hohen Ran-
ges schöpferischer Einfälle, geduldiger und zäher Arbeit, Wagemut in theoretisch ver-
suchenden Entwürfen, kann das Ganze wirken wie ein Hineingezogensein des Geistes
selber in den technischen Prozeß, der sogar die Wissenschaften sich unterwirft - und
dies steigernd von Generation zu Generation. Darum die erstaunliche Torheit so man-
cher Naturforscher außerhalb ihres Fachgebiets, die Ratlosigkeit so vieler Techniker
außerhalb der Aufgaben, die für sie, aber gar nicht an sich die letzten sind, darum die
heimliche Glücklosigkeit dieser unmenschlicher werdenden Welt.
Suchen wir nach einer Analogie für unser Zeitalter, so finden wir sie nicht in der
Achsenzeit, sondern eher noch in einem anderen technischen Zeitalter, von dem wir
keine Überlieferung haben, dem Zeitalter der Erfindung von Werkzeugen und Feuer-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften