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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0157
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124

Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

(und ist als solcher die Erscheinung einer geschichtlichen Lage unter bestimmten Be-
dingungen, keineswegs endgiltig minderwertig).
Masse ist zu unterscheiden vom Volk:
Das Volk ist in Ordnungen gegliedert, ist seiner bewußt in Lebensart und Den-
kungsweise und Überlieferung. Volk ist etwas Substantielles und Qualitatives, es hat
Atmosphäre in der Gemeinschaft, der Einzelne aus dem Volk hat einen persönlichen
Charakter auch durch die Kraft des Volkes, von der er getragen ist.
Die Masse dagegen ist ungegliedert, ihrer selbst unbewußt, einförmig und quanti-
tativ, ohne Art und ohne Überlieferung, bodenlos und leer. Sie ist Gegenstand der Pro-
paganda und Suggestion, ohne Verantwortung, lebt auf tiefstem Bewußtseinsniveau.
Massen entstehen, wo Menschen ohne eigentliche Welt, ohne Herkunft und Bo-
den verfügbar und auswechselbar werden. Das ist als Folge der Technik heute in wach-
sendem Ausmaß geschehen: der eng gewordene Horizont, das Leben auf kurze Sicht
und ohne wirksame Erinnerung, der Zwang der sinnfremden Arbeit, das Amüsement
165 in der Zerstreuung der Freizeit, die | Nervenerregung als Leben, der Betrug im Schein
von Liebe, Treue, Vertrauen, der Verrat zumal in der Jugend und durch ihn das Zyni-
schwerden: wer so etwas getan hat, kann sich selbst nicht mehr achten. Über eine Ver-
zweiflung im Gewände von Frische und Trotz geht der Weg in die Vergessenheit und
Gleichgültigkeit, in den Zustand des menschlichen Zusammenseins als eines Sand-
haufens, der verwendbar, einsetzbar, deportierbar ist und behandelt wird nach Zahl
und nach zählbaren, durch Tests feststellbaren Merkmalen.
Der Einzelne nun ist Volk und Masse zugleich. Er fühlt sich aber ganz anders, wo er
Volk, und wo er Masse ist. Die Situation zwingt in das Massesein, der Mensch hält fest
am Volksein. In Gleichnissen veranschaulicht: als Masse dränge ich in das Universelle,
in die Mode, in das Kino, in das bloße Heute, als Volk will ich Leibhaftigkeit, Unver-
tretbarkeit, das lebendige Theater, das geschichtlich Gegenwärtige, - als Masse applau-
diere ich im Rausch dem Star am Dirigentenpult, als Volk erfahre ich im Intimen die
das Leben übersteigende Musik, - als Masse denke ich in Zahlen, akkumuliere, nivel-
liere, als Volk denke ich in Werthierarchien und Gliederungen.
Masse ist zu unterscheiden vom Publikum:
Publikum ist der erste Schritt auf dem Wege der Verwandlung von Volk in Masse.
Es ist das Echo auf Dichtung, Kunst, Literatur. Wenn das Volk nicht mehr umgreifend
aus seiner Gemeinschaft lebt, erwächst eine Vielheit je eines Publikums, unfaßlich wie
die Masse, aber eine Öffentlichkeit für geistige Dinge in freier Konkurrenz. Für wen
schreibt der Schriftsteller, solange er frei ist? Heute nicht mehr für das Volk und noch
nicht bloß für die Masse. Er wirbt und gewinnt sein Publikum, wenn es ihm glückt.
Das Volk besitzt dauernde Bücher, die sein Leben begleiten, das Publikum wechselt,
ist ohne Charakter. Aber wo es Publikum gibt, ist noch öffentliche Lebendigkeit.
Die Verwandlung von Volk in Publikum und Masse ist heute unaufhaltsam. Die Situa-
tion erzwingt den Gang der Dinge durch die Massen. Aber Masse ist nichts Endgültiges.
 
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