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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0159
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

nünftige geschichtlich in den stärksten Spannungen sich kritisch und zugleich soli-
darisch gegenüberstehender Menschen zu finden.
Heute aber ist dies die ungeheure Gefahr: Während alle frühere Geschichte mit ih-
ren Ereignissen die Substanz des Menschseins wenig betraf, scheint jetzt diese Substanz
selber in Fluß gekommen, in ihrem Kern bedroht. Die Unfestigkeit in allem stellt die
Aufgabe, was der Mensch auf dem Grunde von Wissen und Technik jetzt aus dem Ur-
sprung seines Wesens mit seinem Dasein macht. Die Situation erzwingt dabei den un-
umgänglichen Weg mit den Massen.
2. Auflösung der überlieferten Werte
Früher waren die Religionen verbunden mit der Gesamtheit der sozialen Zustände.
Von ihnen wurde die Religion getragen, und diese rechtfertigte sie wiederum ihrer-
seits. Die Lebensführung jedes Tages war eingebettet in die Religion. Diese war selbst-
verständlich allgegenwärtige Lebensluft. Heute ist die Religion eine Sache der Wahl.
Sie wird festgehalten innerhalb einer Welt, die von ihr nicht mehr durchdrungen ist.
Nicht nur daß die verschiedenen Religionen und Konfessionen nebeneinander ste-
hen und durch diese bloße Tatsache sich in Frage stellen; vielmehr ist die Religion sel-
ber ein aus dem anderen ausgespartes besonderes Lebensgebiet geworden. Die über-
168 lieferten Religionen wurden für immer mehr Menschen unglaubwürdig: fast alle |
Dogmen und die Offenbarung in ihrem ausschließlichen Anspruch auf absolute
Wahrheit. Das faktisch unchristliche Leben auch der meisten Christen ist ein unüber-
hörbarer Einwand. Ein christliches Leben in seiner Sichtbarkeit und fraglosen Wahr-
heit ist heute in bezwingender Vorbildlichkeit vielleicht noch wirklich, aber nicht
mehr für die Massen da.
In allen Zeitaltern, in denen gedacht und geschrieben wurde seit der Achsenzelt,
gab es Zweifel. Jetzt aber ist die Auflösung nicht mehr Sache abseitiger Einzelner und
kleiner Kreise. Sie ist zur Gärung in der Bevölkerung geworden. - Wenn jederzeit im
Menschen die Glaubenslosigkeit bereit ist, so gewann dieser Abfall doch immer nur
spärlichen Raum. Unter den Arbeits- und Lebensbedingungen der Vorzeit blieb die Be-
völkerung in ihren religiösen Bindungen geborgen. Die Bedingungen des technischen
Zeitalters aber sind förderlich geworden für einen Ausbruch der nihilistischen Mög-
lichkeiten in der zur Masse gewordenen Gesamtbevölkerung.
Das jederzeit Bereite wird dazu heute gefördert durch die geistige Bewegung als sol-
che, durch die mißverstandene Wissenschaft, - durch das Mißverständnis seitens der
Massen. Bacons Wort hat sich als richtig erwiesen: halbes Wissen führt zum Unglau-
ben, ganzes Wissen zum Glauben.
Die wachsende Glaubenslosigkeit unseres Zeitalters brachte den Nihilismus. Nietz-
sche ist sein Prophet. Er hat ihn zuerst in seiner unheilvollen Größe gesehen, in allen
seinen Erscheinungen aufgedeckt, ihn selber als Opfer seiner Zeit durchlitten, ihn mit
gewaltiger Anstrengung zu überwinden gesucht - vergeblich.
 
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