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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0160
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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Der Nihilismus, früher in zerstreuten Ansätzen ohnmächtig, wird eine herrschende
Denkungsart. Es scheint heute möglich, daß die gesamte Überlieferung seit der Ach-
senzeit verloren geht, daß die Geschichte von Homer bis Goethe in Vergessenheit ge-
rät. Das mutet an wie die Drohung des Untergangs des Menschseins, jedenfalls ist un-
absehbar und unvorstellbar, was unter solchen Bedingungen aus dem Menschen wird.
Heute geht der Zauber eines Philosophierens durch die Welt, das im Nihilismus die
Wahrheit findet, zu einem wunderlich heroischen Dasein aufruft ohne Trost und ohne
Hoffnung, in Bejahung aller Härte und Erbarmungslosigkeit, in einem ver|meintlich 169
rein diesseitigen Humanismus. Das ist ein Epigonentum Nietzsches ohne dessen hin-
reißende Spannung im Überwindungswillen.
Aber die Grundhaltung des Nihilismus hält der Mensch nicht aus. In der Lage der
allgemeinen Glaubenslosigkeit verfällt der Mensch vielmehr einem blinden Glauben.
Solcher Glaube ist gewaltsamer Ersatz, ist brüchig und wird plötzlich wieder preisge-
geben; er kann die wunderlichsten Inhalte ergreifen; er kann gleichsam ein leerer
Glaube der bloßen Bewegung sein. Er deutet sich etwa als Sicheinsfühlen mit der Na-
tur, mit der Weltgeschichte. Er fixiert sich in Heilsprogrammen. Er verschließt sich in
pseudowissenschaftlichen Totalanschauungen, im Marxismus, in der Psychoanalyse,
in der Rassentheorie (deren wissenschaftliche Elemente, die selten rein herauskom-
men, zugleich unbezweifelbar sind)'.
An dieser Glaubensauflösung lassen sich typische Erscheinungen beispielsweise
beschreiben:
Das Denken in Ideologien. - Ideologie heißt ein Gedanken- oder Vorstellungskom-
plex, der sich dem Denkenden zur Deutung der Welt und seiner Situation in ihr als ab-
solute Wahrheit darstellt, jedoch so, daß er damit eine Selbsttäuschung vollzieht zur
Rechtfertigung, zur Verschleierung, zum Ausweichen, in irgendeinem Sinne zu sei-
nem gegenwärtigen Vorteil. Die Auffassung eines Denkens als Ideologie bedeutet da-
her Entschleierung des Irrtums und Entlarvung des Bösen. Die Benennung eines Den-
kens als Ideologie ist der Vorwurf der Unwahrheit und Unwahrhaftigkeit und ist damit
der heftigste Angriff.
Unser Zeitalter hat Ideologien hervorgebracht und zugleich durchschaut. Was aber
von Hegel bis Marx und Nietzsche an tiefer Einsicht in diesem Sinne gewonnen wurde,
das ist zu einer brutalen Waffe im kommunikationsabbrechenden Redekampf gewor-
den. Die Methode dieses Angriffs richtet sich gegen den Gegner als solchen, gegen alle
Anschauungen, die nicht die eigenen sind. Aber gerade die, die alles, was geglaubt, ge-
dacht, vorgestellt wird, als Ideologie verwerfen, sind oft selber besessen von der eigen-
sinnigsten Ideologie dieser Deutungsweise.
Das hohe Wagnis der Selbstreflexion, diese Bedingung aller Wahrhaftigkeit, ist auf
dem Wege der Ideologienlehre entartet. | Gewiß finden psychologisch unendliche Ver- 170

Siehe Fußnote auf S. 180.
 
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