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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0161
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

kehrungen, Verdrängungen, Verschleierungen statt, und sie gewinnen als Typus gan-
zer Schichten soziologische Bedeutung, z. B. die Unwahrhaftigkeit in bezug auf das Se-
xuelle im bürgerlichen Zeitalter, die Selbstrechtfertigung wirtschaftlichen Erfolgs, die
Legitimierung des Bestehenden seitens der Bevorzugten. Aber durchweg bedarf alsbald
die Weise des Entschleierns selbst der Entschleierung. Wenn unser Zeitalter von der
Höhe Kierkegaards und Nietzsches her das entschleiernde Denken im entlarvenden
Denken zum Äußersten getrieben hat, so ist es nicht mehr Entschleierung, sondern
wird bösartiger Angriff, ist nicht kritische Untersuchung, sondern Suggestion, nicht
empirische Vergegenwärtigung, sondern irgendwie plausible bloße Behauptung. So
ist die Methode eindringender Wahrheitserkenntnis in die Niederungen der Psycho-
analyse und des Vulgärmarxismus geraten. Im entlarvenden Denken, das selber dog-
matisch geworden ist, wird die Wahrheit vollends verloren. Alles ist Ideologie und diese
These selber ist eine Ideologie. Nichts bleibt übrig.
Aber vielleicht ist heute wirklich der Umfang der Ideologienbildung besonders
groß. Denn in der Hoffnungslosigkeit entsteht das Bedürfnis nach Illusion, in der Öde
des persönlichen Daseins das Bedürfnis nach Sensation, in der Ohnmacht das Bedürf-
nis nach Vergewaltigung noch Ohnmächtigerer.
Wie dabei Niedertracht ihr Gewissen beschwichtigt, dafür geben folgende Argu-
mentationen Beispiele:
Wenn der Staat zum offenbaren Verbrechen schreitet, heißt es: Der Staat ist sünd-
haft vom Ursprung her, auch ich bin ein Sünder, ich gehorche den Geboten des Staa-
tes, auch wenn sie sündhaft sind, weil ich nicht besser bin, und weil es die nationale
Pflicht fordert. - Aber dies alles ist für den so Redenden vorteilhaft, er tut mit und ist
Nutznießer, er zeigt seine Qual im verzerrten Antlitz, die doch keine wirkliche Qual
ist, sondern Gebärde. Er ergreift die Sündhaftigkeit als Erleichterung.
Man nimmt teil am Tun schrecklicher Dinge und sagt: Das Leben ist hart. Die ho-
hen Ziele der Nation, des Glaubens, der kommenden endgültig freien und gerechten
Welt verlangen Härte. Man ist hart gegen sich selbst in einer ungefährlichen, genos-
171 senen teilweisen Härte, mit welcher man sich den Schein|beweis der Echtheit der ei-
genen Härteforderung liefert und in der Tat den bedingungslosen eigenen Daseins-
und Machtwillen verhüllt.
Man ist sich der eigenen Verlogenheit im Genuß der zufälligen vorteilhaften Situa-
tion bewußt, während jene schrecklichen Dinge geschehen. Nun möchte man sehen,
was man selbst nicht zu tun bereit ist, selber nicht erfahren und leiden will, selber nicht
sein kann. Man begehrt den Märtyrer. Man begeistert sich für seine Möglichkeit fast,
als ob man damit es selbst schon wäre. Man greift die anderen an, daß sie es nicht sind.
Man berauscht sich am Schicksal von Menschen, die dem Bilde des Begehrens zu ent-
sprechen scheinen, aber man will keineswegs es jemals selbst sein. Diese Verkehrung
geht so weit, daß man später als Vorbild aufstellt und pathetisch gegen die Umgebung
vertritt, was man selber als Zeitgenosse kaum beachtete und vor allem selbst nicht tat.
 
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