Vom Ursprung und Ziel der Geschichte 131
Tiefer führt die These, eine Dialektik der geistigen Entwicklung führe aus dem Chri-
stentum, getrieben von christlichen Motiven, zu einer so radikalen Wahrheitserhel-
lung, daß diese Religion selbst aus ihren eigenen Kräften die Umkehr gegen sich be-
wirke. Aber dieser Weg brauchte wiederum nicht in die Glaubenslosigkeit zu führen.
Im Übergang schmerzvoller und gefährlicher Umschmelzung gehen zwar dogmatische
Positionen verloren, aber die Metamorphose der biblischen Religion bleibt möglich.
Die französische Revolution: Das Ereignis, das die moderne Krise, sei es zum Aus-
druck, sei es in Gang gebracht hat, die französische Revolution, ist bis heute Gegen-
stand der Deutung im entgegengesetzten Sinn:
Kant, ergriffen von dem Versuch der Vernunft, sich auf sich selbst zu stellen,
machte niemals seine hohe Wertschätzung des Anfangs rückgängig: »das vergißt sich
nicht mehr.« Burke65 dagegen war vom ersten Augenblick der ebenso hellsichtige wie
hassende Kritiker. Die einen sahen in dem Ereignisse die Vollendung der wunderba-
ren geistigen Entwicklungen und Bestrebungen des 18. Jahrhunderts, die anderen ge-
rade den Ruin und das Verderben dieser darin verkehrt werdenden Tendenzen, ein Ver-
hängnis, durch das das 18. Jahrhundert nicht vollendet, sondern verschüttet wurde.
Die französische Revolution ist auf dem Boden des Feudalismus und der absoluten
Monarchie gewachsen, als wesentliche Erscheinung darum kein allgemein europä-
ischer Vorgang, sondern auf Gebiete jener Art begrenzt. Die Seele der Schweiz oder
Englands blieb von ihr frei.
Auf dem feudalistischen Boden aber bleibt sie eine zweideutige Erscheinung, weil
sie zwar Freiheit und Vernunft wollte, aber dem Despotismus und der Gewalt Raum
gab. Sie bestimmt unser Denken in beiden Richtungen: in dem Recht des Kampfes ge-
gen | das Böse von Unterdrückung und Ausbeutung für Menschenrechte und Freiheit
jedes Einzelnen, - und in dem Unrecht der Meinung, die Welt im Ganzen auf Vernunft
gründen zu können, statt mit Vernunft die geschichtlichen Bindungen, die Autorität
und Ordnung der Werte ohne Gewalt zu verwandeln. Indem die französische Revolu-
tion die vernünftige Einheit von Freiheit und Bindung zerstörte, überlieferte sie diese
der Willkür einerseits, der Gewalt andererseits.66
Im bodenlosen Vernunftglauben fanatisch gegründet, ist sie nicht die Quelle moder-
ner Freiheit, die vielmehr in der Kontinuität echter Freiheit in England, Amerika, Hol-
land und der Schweiz ihren Boden hat. Insofern ist die französische Revolution trotz ih-
rer heroischen Aufschwünge des Anfangs Ausdruck und Ursprung modernen Unglaubens.
Der philosophische Idealismus: Die Philosophie des deutschen Idealismus - beson-
ders Fichte und Hegel - hat eine Steigerung des philosophischen Selbstbewußtseins
gebracht, ein vermeintliches Totalwissen, das weiß, was Gott ist und will, und überall
das Staunen verliert, weil es im Besitze der absoluten Wahrheit sich dünkt. Solcher
Scheinglaube mußte umschlagen in Glaubenslosigkeit. Diese Philosophie hat zwar im
Besonderen unverlierbare Anschauungen entfaltet, ist eine der genialen Erscheinun-
gen menschlichen Denkens; ihre spekulative Größe ist unbezweifelbar. Aber das Miß-
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Tiefer führt die These, eine Dialektik der geistigen Entwicklung führe aus dem Chri-
stentum, getrieben von christlichen Motiven, zu einer so radikalen Wahrheitserhel-
lung, daß diese Religion selbst aus ihren eigenen Kräften die Umkehr gegen sich be-
wirke. Aber dieser Weg brauchte wiederum nicht in die Glaubenslosigkeit zu führen.
Im Übergang schmerzvoller und gefährlicher Umschmelzung gehen zwar dogmatische
Positionen verloren, aber die Metamorphose der biblischen Religion bleibt möglich.
Die französische Revolution: Das Ereignis, das die moderne Krise, sei es zum Aus-
druck, sei es in Gang gebracht hat, die französische Revolution, ist bis heute Gegen-
stand der Deutung im entgegengesetzten Sinn:
Kant, ergriffen von dem Versuch der Vernunft, sich auf sich selbst zu stellen,
machte niemals seine hohe Wertschätzung des Anfangs rückgängig: »das vergißt sich
nicht mehr.« Burke65 dagegen war vom ersten Augenblick der ebenso hellsichtige wie
hassende Kritiker. Die einen sahen in dem Ereignisse die Vollendung der wunderba-
ren geistigen Entwicklungen und Bestrebungen des 18. Jahrhunderts, die anderen ge-
rade den Ruin und das Verderben dieser darin verkehrt werdenden Tendenzen, ein Ver-
hängnis, durch das das 18. Jahrhundert nicht vollendet, sondern verschüttet wurde.
Die französische Revolution ist auf dem Boden des Feudalismus und der absoluten
Monarchie gewachsen, als wesentliche Erscheinung darum kein allgemein europä-
ischer Vorgang, sondern auf Gebiete jener Art begrenzt. Die Seele der Schweiz oder
Englands blieb von ihr frei.
Auf dem feudalistischen Boden aber bleibt sie eine zweideutige Erscheinung, weil
sie zwar Freiheit und Vernunft wollte, aber dem Despotismus und der Gewalt Raum
gab. Sie bestimmt unser Denken in beiden Richtungen: in dem Recht des Kampfes ge-
gen | das Böse von Unterdrückung und Ausbeutung für Menschenrechte und Freiheit
jedes Einzelnen, - und in dem Unrecht der Meinung, die Welt im Ganzen auf Vernunft
gründen zu können, statt mit Vernunft die geschichtlichen Bindungen, die Autorität
und Ordnung der Werte ohne Gewalt zu verwandeln. Indem die französische Revolu-
tion die vernünftige Einheit von Freiheit und Bindung zerstörte, überlieferte sie diese
der Willkür einerseits, der Gewalt andererseits.66
Im bodenlosen Vernunftglauben fanatisch gegründet, ist sie nicht die Quelle moder-
ner Freiheit, die vielmehr in der Kontinuität echter Freiheit in England, Amerika, Hol-
land und der Schweiz ihren Boden hat. Insofern ist die französische Revolution trotz ih-
rer heroischen Aufschwünge des Anfangs Ausdruck und Ursprung modernen Unglaubens.
Der philosophische Idealismus: Die Philosophie des deutschen Idealismus - beson-
ders Fichte und Hegel - hat eine Steigerung des philosophischen Selbstbewußtseins
gebracht, ein vermeintliches Totalwissen, das weiß, was Gott ist und will, und überall
das Staunen verliert, weil es im Besitze der absoluten Wahrheit sich dünkt. Solcher
Scheinglaube mußte umschlagen in Glaubenslosigkeit. Diese Philosophie hat zwar im
Besonderen unverlierbare Anschauungen entfaltet, ist eine der genialen Erscheinun-
gen menschlichen Denkens; ihre spekulative Größe ist unbezweifelbar. Aber das Miß-
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