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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0242
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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besten Köpfen der Zeit, unerläßlich für jeden gegenwärtigen Menschen, werden zur
Gefahr, wo sie einzige Lektüre bleiben im Typus des schnell vergessenden Zeitungsle-
sers. Es ist unabsehbar, was in Zukunft einmal für die Erziehung des Menschen die sein
Leben beherrschende Lektüre sein wird.
Weil es auf alle Menschen ankommt, haben Bemühungen, die sich an die gesamte
Bevölkerung wenden, den Vorrang für die Bestimmung der Zukunft, wenn es ihnen
wirklich gelingt, die Herzen zu durchdringen, und wenn sie nicht nur künstliche Ge-
bilde herstellen. Diese werden, weil sie nicht in den Herzen Wurzel faßten, in wirkli-
chen Katastrophen sogleich zerbrechen, wie es bei den faschistischen Scheingebilden
geschah, die doch so lärmend bejaht und bekannt und gelebt wurden.
| Was durch Erneuerung der Kirchen möglich ist, kann niemand wissen. Man sieht wohl
Kräfte, aus kirchlichem Glauben kommend, in ihrer persönlichen Gestalt von ergrei-
fender Unbedingtheit. Aber man sieht heute nicht die große, weithin wirkende, über-
zeugende Erscheinung im Ganzen.
Der kirchliche Glaube spricht sich aus in Vorstellungen, Gedanken, Dogmen und
wird zum Bekenntnis. Er kann sich, seinen Ursprung verlierend, mit diesen besonde-
ren Inhalten und Objektivierungen identifizieren und muß dann erlahmen. Aber er
braucht diese Gehäuse auch zur Bewahrung der Überlieferung.
Noch scheint die Mehrzahl der Menschen im Glauben an eine Weise handgreifli-
cher Wirklichkeit gebunden zu sein. Die Klugheit der Institutionen, welche Macht
über die Völker und zugleich Hilfe für alle wollen, wendet sich daher immer auch an
das Verlangen nach sinnlicher Realität und bestimmten Glaubensdogmen, wenn al-
les andere in den Massen nicht Wurzel zu schlagen scheint.
Dagegen steht eine kirchenfremde Verwandlung der Glaubensweise. Der Mensch,
seiner Freiheit inne, läßt im aussprechbaren allgemeinen Inhalt seinen Glauben schwe-
bend, ist entschieden in seiner Geschichtlichkeit, in den Entschlüssen seines persönli-
chen Lebens, er prüft und hält sich offen und gründet sich auf Autorität der gesamten
geschichtlichen Überlieferung. Es ist die Frage, ob das Zeitalter, das zum erstenmal
ganze Bevölkerungen lesen und schreiben gelehrt und eine vielleicht immer bessere Er-
ziehung des Denkens gebracht hat, nicht allein dadurch neue Möglichkeiten gibt für
einen freien, in der Ausgesagtheit schwebenden Glauben ohne Lähmung von Ernst und
Unbedingtheit. Noch ist solche Glaubensweise jederzeit ohne Anklang in den Massen
der Bevölkerung gewesen.
Daher wird sie von den Funktionären dogmatischer, doktrinärer, institutionärer
Glaubensweisen im Machtgefühl der Zugehörigkeit zu gewaltigen, in der Welt wirksa-
men, im weiteren Umkreis zuweilen allmächtigen Gebilden als privat und ohnmäch-
tig verachtet. Aber es ist - da schließlich die Masse aus lauter Einzelnen besteht, also
überall das Private zur Geltung kommt - für den Gang der Dinge bestimmend, ob jene

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