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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0244
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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Dieses Neue würde nicht lebendig durch eine Stiftung, die in Korrelation zur Ge-
waltsamkeit eines Weltimperiums nur äußerliche Chancen hätte. Soll es den Men-
schen wirklich ergreifen, so müßte etwas wie eine neue Achsenzeit heraufkommen.
Dann würde die Auflockerung der Menschheit zeigen, was wächst in der Kommuni-
kation des geistigen Kampfes, in der Anspannung sittlicher Unbedingtheit, in der Se-
ligkeit, den neuen Prozeß des Offenbarwerdens getragen zu wissen von der Gottheit.
Man kann weiter denken: In kommenden Jahrhunderten werden vielleicht Men-
schen auftreten, die getragen vom Blick auf den Ursprung der Achsenzeit Wahrheiten
verkünden, die, erfüllt vom Wissen und Erfahren unseres Zeitalters, wirklich geglaubt
und gelebt werden. Der Mensch würde wieder im ganzen Ernst erfahren, was es heißt,
daß Gott ist, und wieder das Pneuma kennen, das das Leben hinreißt.
Dies in Gestalt einer neuen Offenbarung Gottes zu erwarten, scheint jedoch ver-
fehlt. Der Offenbarungsbegriff gehört allein der biblischen Religion. Die Offenbarung
ist geschehen und ist vollendet. Der Offenbarungsgedanke wird unlösbar mit der bi-
blischen Religion verbunden bleiben. In der Helle unserer Welt würde eine mit dem
Anspruch einer neuen Gottesoffenbarung auftretende Prophetie vielleicht immer als
Wahnsinn wirken oder als falsche Prophetie, als Aberglaube, der versinkt vor der ei-
nen großen wahren Prophetie, die vorJahrtausenden stattfand. Doch, wer weiß?
Solche neue Offenbarung würde jedenfalls unwahr werden in einer nur usurpier-
ten und nur gewaltsamen Ausschließlichkeit. | Denn daß die Wahrheit des Glaubens
in der Vielfachheit seiner geschichtlichen Erscheinung, im Sichbegegnen dieser Viel-
fachheit durch immer tiefere Kommunikation liegt, diese Einsicht und Erfahrung der
neueren Jahrhunderte, läßt sich nicht rückgängig machen. Diese Erfahrung kann in
ihrem Ursprung nicht falsch sein.
Angesichts aber der Möglichkeit eines totalitären Weltimperiums und einer ihm
entsprechenden totalitären Glaubenswahrheit bleibt nur die Hoffnung für den Einzel-
nen, für ungezählte Einzelne, wie sie seit der Achsenzeit bis heute, von China bis zum
Abendlande lebten, den Strom des Philosophierens zu bewahren, mag er auch noch so
schmal werden. Unabhängigkeit des tiefsten Inneren des auf Transzendenz bezogenen
Menschen vom Staat sowohl als von der Kirche, Freiheit der Seele, die ermutigt wird im
Gespräch mit der großen Überlieferung, das bleibt dann die letzte Zuflucht, wie sie es
seit Jahrtausenden schon manches Mal in bösen Übergangszeiten war.
Hält man es für unwahrscheinlich, daß eine Welteinheit ohne Glaubenseinheit er-
wachsen werde, so wage ich das Gegenteil zu behaupten: Das für alle verbindliche All-
gemeine einer Weltordnung (im Unterschied vom Weltimperium) ist gerade nur dann
möglich, wenn die vielfachen Glaubensgehalte frei bleiben in ihrer geschichtlichen
Kommunikation ohne Einheit eines objektiven, allgemeingültigen Glaubensinhalts.
Das Gemeinsame allen Glaubens in bezug auf die Weltordnung kann nur sein, daß ein
jeder die Ordnung der Daseinsgrundlagen in einer Weltgemeinschaft will, in der er
Raum zur Entfaltung mit friedlichen Mitteln des Geistes hat.

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