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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0258
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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eine einzige ungeheure Individuum, in der Welt geschichtlich ist. Aber es zeigt sich
nur in der Geschichtlichkeit der Liebe eines Individuums zu einem Individuum.
Dem Sein der Geschichte entspricht die Besonderheit geschichtlicher Erkenntnis.
Die historische Forschung schafft die Voraussetzungen an realer Einsicht, durch die
und an deren Grenzen uns aufgehen kann, was der Forschung selbst nicht mehr zu-
gänglich ist, woher sie aber geführt wird in der Wahl ihrer Themen, ihrer Unterschei-
dung von Wesentlichem und Unwesentlichem. Auf dem Wege über das immer Allge-
meine unserer Erkenntnis zeigt die Forschung an ihrer Grenze das unersetzliche
Individuelle der Geschichte als das niemals Allgemeine. Das Ansichtigwerden dieses
Individuellen verbindet uns mit ihm auf einer über die Erkenntnis hinaus liegenden,
doch nur durch Erkenntnis erreichbaren Ebene.
Was wir als geschichtlich Besonderes zu eigen gewinnen, läßt uns voranschreiten
zur Gesamtgeschichte als zu einem einzigen Individuum. Alle Geschichtlichkeit wur-
zelt im Grunde dieser einen umfassenden Geschichtlichkeit.
b. Das Übergangsein der Geschichte
In der Geschichte ist jeden Augenblick die Natur noch gegenwärtig. Sie ist die Reali-
tät, die trägt, ist das Sichwiederholende, das Dauerhafte, nur sehr langsam wie alle Na-
tur bewußtlos sich Verändernde. Wo aber der Geist auftritt, ist Bewußtsein, Reflexion,
unaufhaltsame Bewegung in der Arbeit mit sich selbst, an sich selbst in einer unab-
schließbaren Offenheit des Möglichen.
Je entschiedener das einmalig Einzige, je weniger identische Wiederholbarkeit da
ist, desto eigentlicher ist die Geschichte. Alles Große ist Erscheinung im Übergang.
Ist die Geschichte das Offenbarwerden des Seins, so ist die Wahrheit in der Ge-
schichte jederzeit gegenwärtig und doch nie vollendet, sondern immer in der Bewe-
gung. Sie ist verloren, wo | sie sich zum endgiltigen Besitz geworden glaubt. Je radika-
ler die Bewegung, aus desto größerer Tiefe kann die Wahrheit erscheinen. Die größten
geistigen Werke sind daher solche des Übergangs, an der Grenze der Zeitalter. Einige
Beispiele:
Die griechische Tragödie steht am Übergang vom Mythus zur Philosophie. Noch
mythenschaffend aus der uralten Substanz der Überlieferung, sie im Bilde vertiefend,
leben die Tragiker trotz ihrer ursprünglichen Anschauung schon fragend und deutend.
Sie steigern den Gehalt und sind auf dem Wege, auf dem er aufgelöst wird. So sind sie
die Schöpfer der tiefsinnigsten Gestaltungen des Mythus und sind zugleich das Ende
des Mythus als allumgreifender Wahrheit.
Die Mystik Eckharts101 war so unbefangen wagemutig, weil sie beides war, kir-
chengläubig und Ursprung der neuen freien Vernunft. Sie geriet noch nicht ins ver-
derbliche Spiel verantwortungsloser Widersinnigkeiten, hatte keinen zerstörenden
Antrieb, und öffnete, weil aus den Möglichkeiten des weitesten, dem Gedanken keine

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