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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0259
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

Grenzen setzenden Menschen lebend, den Weg sowohl zur tiefsten Einsicht wie zur
Zersetzung der Überlieferung.
Die Philosophie des deutschen Idealismus von Fichte und Hegel bis zu Schelling stand
auf dem Übergang vom Glauben zur Gottlosigkeit. Die Goethezeit lebte eine ästheti-
sche Religion im strahlenden Glanze des Verstehens aller Tiefen des Geistes, genährt
aus der vergangenen Substanz christlichen Glaubens, die dann in den Nachfolgenden
verloren ging.
Analog würde aus dem Übergang zu begreifen sein Plato oder Shakespeare oder
Rembrandt. Übergang in diesem Sinne sind ganze Zeitalter - vor allem die Jahrhun-
derte der Achsenzeit sechshundert bis dreihundert vor Christus.
Übergang aber ist immer. Die Tiefe der Bewegung eines Übergangs bringt die höch-
ste Klarheit von Sein und Wahrheit. Die Abschwächung des Übergangs zu scheinbarer
Dauer eines Bestehens läßt mit dem Sinn für die Zeit auch das Bewußtsein absinken
und den Menschen in den Schlaf äußerlichen Wiederholens, in Gewohnheit und
Natur verfallen.
Die größten Erscheinungen der Geistesgeschichte sind als Übergang Abschluß und
Anfang zugleich. Sie sind ein Zwischensein als ein nur an ihrem geschichtlichen Ort
303 ursprünglich | Wahres, das dann für die Erinnerung unersetzliche Gestalt bleibt, aber
unwiederholbar und unnachahmbar ist. Die menschliche Größe scheint unter den Be-
dingungen solchen Übergangs zu stehen. Und darum ist ihr Werk, obgleich die Zeit
überwindend in das zeitlose Gebilde, doch für die Nachkommenden nie die Wahrheit,
mit der wir identisch werden können, wenn wir auch selbst an ihr entzündet und
durch sie in Bewegung gebracht sind.
Vollendete Wahrheit und das aus der Tiefe des Seins sich selber helle Leben möch-
ten wir wohl irgendwo in der Geschichte sehen. Aber wo wir es zu sehen glauben, ver-
fallen wir an Illusionen.
Die Romantik imaginierte eine Vorzeit, in der die Höhe des Menschseins ein Leben
mit Gott war, für uns unüberliefert außer in deutbaren Spuren, ein erregendes Schweigen.
Damals war die Wahrheit. Wir erhaschen im Verlöschen ein letztes Licht. Alle Geschichte
erscheint von daher wie das Verlieren eines ursprünglichen Kapitals. - Wo jedoch die em-
pirische Forschung die Vorzeit in Resten wiederentdeckt, da findet sie keine Bestätigung
solcher Träume. Jene Vorzeiten waren roh, der Mensch unendlich abhängig und preis-
gegeben. Menschsein ist uns faßlich erst durch das, was Geist und mitteilbar wird.
Aber auch in der Folge der Erscheinungen, von denen wir geschichtliche Kunde
und wirkliche Anschauung haben, ist nirgends die absolute Vollendung (außer in der
Kunst, aber hier in Spiel und Symbol). Alles Große ist Übergang, auch gerade das sei-
nem Sinne und seiner Absicht nach den ewigen Bestand Verzeichnende. Die geistige
Schöpfung des Mittelalters, die sich in dem System des Thomas und der Dichtung Dan-
tes102 vollendet, noch aus ganzem Glauben, ist doch das Bild dessen, was im Augen-
blick, als es gedacht wurde, schon gewesen und unwiederbringlich verloren war. In
 
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