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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0271
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238

Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

Jeder Sinn ist als gemeinter Sinn in mannigfacher Gestalt dem Bewußtsein von
Menschen gegenwärtig. Wir Menschen schwingen uns darin auf zum Einen, ohne es
als Wissensinhalt zur Verfügung zu haben.
Aber jederzeit wird auch dem Begehren, einen Sinn als einzigen, allumfassenden
319 zu kennen und zu glauben, genügt. Und wenn | jeder Sinn, der verabsolutiert ist, schei-
tern muß, so suchen neue Generationen alsbald durch ihre Philosophen wiederum ei-
nen übergreifenden Sinn, der die Geschichte beherrscht habe und beherrsche, und
der nun, nachdem er begriffen sei, auch als gemeinter Sinn in den eigenen Willen auf-
genommen und zur Führung werden könne (so in der christlichen Geschichtsphilo-
sophie, so in Hegel und in Marx und in Comte104 u. A.).
Diese Einheit wird in deutender Totalanschauung der Geschichte vor Augen ge-
stellt.
c. Einheit für die denkende Totalanschauung
Einheit der Geschichte zu begreifen, d. h. die Universalgeschichte als ein Ganzes zu
denken, ist der Drang geschichtlichen Wissens, das seinen eigenen letzten Sinn sucht.
Philosophische Betrachtung der Geschichte hat daher nach der Einheit gefragt,
durch die die Menschheit zusammengehalten werde. Menschen haben den Erdball
besiedelt, aber sie waren zerstreut und wußten nicht voneinander, lebten in den ver-
schiedensten Gestalten, sprachen Tausende von Sprachen. Wer früher Universalge-
schichte dachte, gestaltete daher wegen der Enge seines Horizonts eine Einheit um den
Preis der Beschränkung, etwa bei uns auf das Abendland, in China auf das Reich der
Mitte. Was außerhalb lag, gehörte nicht dazu, galt als Leben von Barbaren, Naturvöl-
kern, die wohl Gegenstand ethnologischen Interesses, nicht aber der Geschichte wa-
ren. Die Einheit lag darin, daß die Tendenz vorausgesetzt wurde, Schritt für Schritt alle
noch unbekannten Völker der Erde an der einen, nämlich der eigenen Kultur teilneh-
men zu lassen, sie in den eigenen Ordnungsraum zu bringen.
Wenn der Glaube in aller Geschichte einen Grund und ein Ziel voraussetzte, so hat
der Gedanke diese in der wirklichen Geschichte erkennen wollen. Konstruktionen der ei-
nen Geschichte der Menschheit waren die Versuche, die jeweils als durch Offenbarung
der Gottheit gegebenes oder durch Vernunft einsichtiges Wissen der Einheit erschienen.
320 | Der Gang Gottes in der Geschichte wurde im Abendlande sichtbar in der Folge
seiner Akte durch Schöpfung, Vertreibung aus dem Paradiese, Kundgabe seines Wil-
lens durch die Propheten, Erlösung durch Erscheinung seiner selbst in der Wende der
Zeiten, bis zum Ende in dem zu erwartenden Jüngsten Gericht. Was zuerst gedacht
wurde von jüdischen Propheten, dann christliche Gestalt gewann durch Augustin,
wiederholt und abgewandelt wurde von Joachim Fiore bis Bossuet,105 säkularisiert
wurde von Lessing106 und Herder107 bis Hegel, das ist jedesmal das Wissen um die eine
ganze Geschichte, in der alles seinen Ort hat. Eine Folge von Grundprinzipien des
 
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