Vom Ursprung und Ziel der Geschichte
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menschlichen Daseins tritt auf, die, in ihrer Tiefe erfaßt, lehren, was eigentlich ist und
geschieht.
Aber solche Konstruktion - so großartig sie in zwei Jahrtausenden geglaubt und
ausgesprochen wurde - scheitert:
a) Wenn ich das Ganze kenne, hat jedes menschliche Dasein seinen Ort im Gan-
zen. Es ist nicht für sich, sondern dient einem Weg. Es ist nicht unmittelbar zur Tran-
szendenz, sondern vermittelst eines Platzes in der Zeit, der es beengt, zu einem Teil
macht. Jedes menschliche Dasein, jede Zeit, jedes Volk wird mediatisiert. Dagegen
sträubt sich die ursprüngliche Beziehung zur Gottheit, die Unendlichkeit des Umgrei-
fenden, die jederzeit ganz sein kann.
b) In dem Wissen vom Ganzen fällt die größte Masse der menschlichen Realität,
fallen ganze Völker, Zeitalter und Kulturen als gleichgiltig beiseite. Sie sind nichts als
Zufall und Beiläufigkeit des Naturgeschehens.
c) Die Geschichte ist nicht abgeschlossen und zeigt nicht ihren Ursprung. Für jene
Konstruktion aber ist sie abgeschlossen. Der Anfang und das Ende sind hinzuerfun-
den in der Gestalt einer vermeintlichen Offenbarung. In der Tat stehen zwei geschicht-
liche Grundauffassungen sich ausschließend gegenüber.
Entweder ist die Geschichte als Ganzes vor Augen, ist die Einheit einer wißbaren
Entwicklung mit Anfang und Ende. Ich selber mit meiner Zeit stehe am bestimmten
Punkte, gedacht entweder als der erreichte Tiefpunkt oder als die bis jetzt erreichte
größte Höhe.
Oder die Geschichte ist faktisch und für mein Bewußtsein ungeschlossen. Ich halte
mich offen für die Zukunft. Es ist eine | Haltung des Wartens und des Suchens der
Wahrheit, des Nochnichtwissens sogar dessen, was schon ist, aber erst von der Zukunft
her ganz verstehbar wird. In dieser Grundhaltung ist sogar die Vergangenheit unabge-
schlossen: sie lebt noch, ihre Entscheidungen sind nicht im Ganzen, sondern nur re-
lativ endgiltig, sie sind revidierbar. Was war, ist noch neuer Deutung fähig. Was ent-
schieden schien, wird von neuem Frage. Was war, wird noch erweisen, was es ist. Es
liegt nicht da als toter Rest. Im Vergangenen steckt mehr als das, was objektiv und ra-
tional bisher herausgeholt wurde. Der Denkende steht selbst noch in der Entwicklung,
die die Geschichte ist, er ist nicht am Ende, weiß daher - auf einem Hügel mit begrenz-
tem Blick stehend, nicht auf dem Weltberg mit einer Gesamtübersicht - Richtungen
möglicher Wege, und weiß doch nicht, was Ursprung und Ziel des Ganzen ist.
Daher kann die Geschichte aussehen wie ein Versuchsfeld, verschwindet die Ein-
heit in der Unendlichkeit des Möglichen. Die bleibende Grundhaltung ist das Fragen.
Die Ruhe eines großen Symbols des Ganzen, eines die Zeit und mit ihr Vergangenheit
und Zukunft tilgenden Bildes der Einheit von allem ist nur ein Haltepunkt in der Zeit,
nicht die Endgiltigkeit einer gewußten Wahrheit.
Aber wenn uns nicht die Geschichte zerfallen soll in die Zerstreutheit des Zufälli-
gen, in das Kommen und Gehen ohne Richtung, in die Weglosigkeit vieler Scheinwege,
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menschlichen Daseins tritt auf, die, in ihrer Tiefe erfaßt, lehren, was eigentlich ist und
geschieht.
Aber solche Konstruktion - so großartig sie in zwei Jahrtausenden geglaubt und
ausgesprochen wurde - scheitert:
a) Wenn ich das Ganze kenne, hat jedes menschliche Dasein seinen Ort im Gan-
zen. Es ist nicht für sich, sondern dient einem Weg. Es ist nicht unmittelbar zur Tran-
szendenz, sondern vermittelst eines Platzes in der Zeit, der es beengt, zu einem Teil
macht. Jedes menschliche Dasein, jede Zeit, jedes Volk wird mediatisiert. Dagegen
sträubt sich die ursprüngliche Beziehung zur Gottheit, die Unendlichkeit des Umgrei-
fenden, die jederzeit ganz sein kann.
b) In dem Wissen vom Ganzen fällt die größte Masse der menschlichen Realität,
fallen ganze Völker, Zeitalter und Kulturen als gleichgiltig beiseite. Sie sind nichts als
Zufall und Beiläufigkeit des Naturgeschehens.
c) Die Geschichte ist nicht abgeschlossen und zeigt nicht ihren Ursprung. Für jene
Konstruktion aber ist sie abgeschlossen. Der Anfang und das Ende sind hinzuerfun-
den in der Gestalt einer vermeintlichen Offenbarung. In der Tat stehen zwei geschicht-
liche Grundauffassungen sich ausschließend gegenüber.
Entweder ist die Geschichte als Ganzes vor Augen, ist die Einheit einer wißbaren
Entwicklung mit Anfang und Ende. Ich selber mit meiner Zeit stehe am bestimmten
Punkte, gedacht entweder als der erreichte Tiefpunkt oder als die bis jetzt erreichte
größte Höhe.
Oder die Geschichte ist faktisch und für mein Bewußtsein ungeschlossen. Ich halte
mich offen für die Zukunft. Es ist eine | Haltung des Wartens und des Suchens der
Wahrheit, des Nochnichtwissens sogar dessen, was schon ist, aber erst von der Zukunft
her ganz verstehbar wird. In dieser Grundhaltung ist sogar die Vergangenheit unabge-
schlossen: sie lebt noch, ihre Entscheidungen sind nicht im Ganzen, sondern nur re-
lativ endgiltig, sie sind revidierbar. Was war, ist noch neuer Deutung fähig. Was ent-
schieden schien, wird von neuem Frage. Was war, wird noch erweisen, was es ist. Es
liegt nicht da als toter Rest. Im Vergangenen steckt mehr als das, was objektiv und ra-
tional bisher herausgeholt wurde. Der Denkende steht selbst noch in der Entwicklung,
die die Geschichte ist, er ist nicht am Ende, weiß daher - auf einem Hügel mit begrenz-
tem Blick stehend, nicht auf dem Weltberg mit einer Gesamtübersicht - Richtungen
möglicher Wege, und weiß doch nicht, was Ursprung und Ziel des Ganzen ist.
Daher kann die Geschichte aussehen wie ein Versuchsfeld, verschwindet die Ein-
heit in der Unendlichkeit des Möglichen. Die bleibende Grundhaltung ist das Fragen.
Die Ruhe eines großen Symbols des Ganzen, eines die Zeit und mit ihr Vergangenheit
und Zukunft tilgenden Bildes der Einheit von allem ist nur ein Haltepunkt in der Zeit,
nicht die Endgiltigkeit einer gewußten Wahrheit.
Aber wenn uns nicht die Geschichte zerfallen soll in die Zerstreutheit des Zufälli-
gen, in das Kommen und Gehen ohne Richtung, in die Weglosigkeit vieler Scheinwege,
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