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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0283
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

1) Wir überschreiten die Geschichte durch Hinwendung zur Natur. Vor dem Ozean,
in der Bergwelt, im Sturm, in den Lichtfluten des Sonnenaufgangs, im Farbenspiel der
Elemente, in der leblosen polaren Welt von Schnee und Eis, im Urwald, überall, wo
menschenfremde Natur uns anspricht, da kann es uns geschehen, daß wir uns wie be-
freit fühlen. Heimkehr in das bewußtlose Leben, Heimkehr noch tiefer in die Klarheit
der leblosen Elemente kann uns hinreißen in Stille, in Jubel, in schmerzlose Einheit.
Aber all das täuscht, wenn es mehr ist als ein im Übergang erfahrenes Geheimnis des
ganz und gar schweigenden Naturseins, dieses Seins jenseits von allem, was wir gut
und böse, schön und häßlich, wahr und falsch nennen, dieses uns im Stich lassenden
336 Seins ohne Herz und ohne Erbarmen. Finden wir dort | wirklich unsere Zuflucht, so
sind wir den Menschen und uns selbst davongelaufen. Nehmen wir aber diese im Au-
genblick hinreißenden Naturerfahrungen als stumme Zeichen, deutend auf das, was
über aller Geschichte liegt, es nicht offenbarend, so bleiben sie wahr, indem sie uns
vorantreiben und nicht bei sich festhalten.
2) Wir überschreiten die Geschichte in das zeitlos Geltende, in die Wahrheit, die
von aller Geschichte unabhängig ist, in die Mathematik und in alles zwingende Wis-
sen, in jede Form des Allgemeinen und Allgemeingültigen, das unbetroffen von allem
Wandel immer ist, ob erkannt oder nicht erkannt. Es kann uns ein Schwung ergreifen
im Erfassen dieser Klarheit des Gütigen. Wir haben einen festen Punkt, ein Sein, das
besteht. Aber wiederum werden wir verführt, wenn wir daran haften. Auch dieses Gel-
ten ist ein Zeichen, aber es trägt nicht den Gehalt des Seins. Es läßt uns merkwürdig
unbetroffen, es zeigt sich im ständigen Fortschritt seines Entdecktwerdens. Es ist we-
sentlich die Form des Geltens, während der Inhalt endlos vieles Seiende, nie das Sein
trifft. Nur unser Verstand hat hier Ruhe in einem Bestehenden. Wir selbst nicht. Daß
es aber diese Geltung gibt, unabhängig und losgelöst von aller Geschichte, ist wie-
derum ein Hinweis auf das Überzeitliche.
3) Wir überschreiten die Geschichte in den Grund der Geschichtlichkeit, das heißt
zur Geschichtlichkeit im Ganzen des Weltseins. Von der Menschengeschichte führt
ein Weg in den Grund, von dem her die gesamte Natur - an sich ungeschichtlich - in
das Licht einer Geschichtlichkeit rückt. Aber nur für eine Spekulation, der es wie eine
Sprache wird, daß der Geschichtlichkeit des Menschen aus der Natur etwas entgegen-
zukommen scheint in seiner eigenen biologischen Anlage, in Landschaften und Na-
turereignissen. Diese sind zunächst nur sinnfremd und hinfällig, Katastrophen oder
gleichgültiges Vorhandensein, und sie sind doch von Geschichte gleichsam beseelt,
als ob sie Entsprechungen aus einer gemeinsamen Wurzel wären.
4) In diesen Grund der Geschichtlichkeit führt uns die Geschichtlichkeit der eige-
nen Existenz. Von dem Punkte aus, wo wir in der Unbedingtheit unseres Übernehmens
und Wählens dessen, wie wir uns in der Welt finden, unseres Entscheidens, unseres
337 Sichgeschenktwerdens in der Liebe selbst, das Sein quer zur Zeit | als Geschichtlichkeit
werden, - von diesem Punkt aus fällt das Licht auf die Geschichtlichkeit der Historie
 
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