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Stellenkommentar
Jahre nicht ohne Denken an Max Weber geschah, - in der Frage: was würde er sagen? - in
der Zueigenmachung seiner Grundposition - nicht auf dem Wege, seine Soziologie und
soziologische Forschung fortzusetzen, sondern auf dem, dieses Philosophieren bewußt zu
machen. Seit 1909 stehe ich unter seinem Einfluß.« (K. Jaspers: Die großen Philosophen.
Nachlaß, Bd. 1, 641-642). Die Wertschätzung für Weber ging so weit, dass ihn Jaspers als
»Galilei der Geisteswissenschaften« bezeichnet hat (vgl. K. Jaspers: »Karl Jaspers - Ein
Selbstporträt«, 33). Zum Einfluss von Weber auf Jaspers vgl. R. Aron: »Karl Jaspers und die
Politik«, in: Karl Jaspers. Philosoph, Arzt, politischer Denker, 59-76; D. Henrich: »Denken im
Blick auf Max Weber. Eine Einführung«, in: K. Jaspers: Max Weber. Gesammelte Schriften.
Mit einer Einführung von Dieter Henrich, München 1988, 7-31. Weber spielte auch in der aka-
demischen Karriere von Jaspers eine bedeutende Rolle, weil er mit einem Gutachten dazu
beitrug, dass sich Jaspers an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg mit
dem methodologischen Lehrbuch Allgemeine Psychopathologie für Psychologie habilitieren
konnte. Bei Besuchen im sogenannten »Weber-Kreis« in Heidelberg traf Jaspers prominente
Gelehrte und Wissenschaftler seiner Zeit (Georg Simmel, Emil Lask, Gustav Radbruch,
Ernst Troeltsch u.a.).
Als Weber 1920 starb, hielt Jaspers vor der Heidelberger Studentenschaft eine Gedächt-
nisrede, in der er Weber nicht bloß als Soziologen würdigte, sondern als »existentiellen Phi-
losophen«, der mit seinem Leben, politischem Engagement und seinem Werk »Größe«,
»Wahrhaftigkeit«, »tiefen Ernst«, »Liebe zum Menschen«, »Selbstgenügsamkeit«, »einsame
Unerschütterlichkeit« und »Unbedingtheit im Handeln« vorgelebt habe (vgl. K. Jaspers:
»Max Weber. Eine Gedenkrede«, in: Aneignung und Polemik, 409-423, zitierte Seiten: 413,
418, 420-422). Im Jahr 1932 veröffentlichte Jaspers ein Buch über Weber, in dem er diesen
in dreifacher Hinsicht würdigt: als Politiker, als Forscher und als Philosoph (vgl. K. Jaspers:
Max Weber. Deutsches Wesen im politischen Denken, im Forschen und Philosophieren, Olden-
burg 1932; nach dem Zweiten Weltkrieg erschien dieses Buch in einer weiteren Auflage un-
ter dem geänderten Titel: Max Weber. Politiker, Forscher, Philosoph, München 1958. Im Vor-
wort erklärt Jaspers den Gebrauch der Wortverwendung »Deutsches Wesen« in der ersten
Auflage als Oppositionshaltung gegen die damalige Mystifizierung des »deutschen Wesens«
durch den Nationalsozialismus, vgl. »Eine Gedenkrede«, 425). Für eine zusammenfassende
Ausgabe der Jaspers-Schriften über Max Weber vgl. K. Jaspers: Max Weber. Gesammelte Schrif-
ten, Einführung von D. Henrich, München 1988.
Dass sich in Jaspers’ Nachlass auch Bemerkungen über Webers psychische Krankheit
finden, ist ebenfalls ein Indiz dafür, wie groß Jaspers’ Interesse an der Gesamtpersönlich-
keit Webers war, nicht zuletzt auch als Psychiater. Er diagnostizierte dessen psychische Pro-
bleme nicht als organische Geisteskrankheit, sondern als eine neurologisch bedingte, »heil-
bare funktionelle, unberechenbar, in Schwankungen, verlaufende« psychische Störung
(vgl. K. Jaspers: Die großen Philosophen. Nachlaß, Bd. 1, 649). Zu Webers Krankheit vgl. auch
die Monographie von Webers Frau Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen
1926,247-272, 368-369, 418. Die uneingeschränkte Bewunderung und Wertschätzung der
Persönlichkeit Webers wurde beeinträchtigt, als Jaspers im Jahr 1967 über Eduard Baumgar-
ten Liebesbriefe zu lesen bekam, die Weber an Else Jaffe geschrieben hatte. Die Verheimli-
chung der Liebesbeziehung zu Else Jaffe vor der Ehefrau Marianne erschütterte Jaspers’
Glauben an die »grenzenlose Redlichkeit« seines bisherigen großen Vorbildes in erhebli-
chem Maße (vgl. D. Henrich: »Einführung«, in: K. Jaspers: Max Weber. Gesammelte Schrif-
Stellenkommentar
Jahre nicht ohne Denken an Max Weber geschah, - in der Frage: was würde er sagen? - in
der Zueigenmachung seiner Grundposition - nicht auf dem Wege, seine Soziologie und
soziologische Forschung fortzusetzen, sondern auf dem, dieses Philosophieren bewußt zu
machen. Seit 1909 stehe ich unter seinem Einfluß.« (K. Jaspers: Die großen Philosophen.
Nachlaß, Bd. 1, 641-642). Die Wertschätzung für Weber ging so weit, dass ihn Jaspers als
»Galilei der Geisteswissenschaften« bezeichnet hat (vgl. K. Jaspers: »Karl Jaspers - Ein
Selbstporträt«, 33). Zum Einfluss von Weber auf Jaspers vgl. R. Aron: »Karl Jaspers und die
Politik«, in: Karl Jaspers. Philosoph, Arzt, politischer Denker, 59-76; D. Henrich: »Denken im
Blick auf Max Weber. Eine Einführung«, in: K. Jaspers: Max Weber. Gesammelte Schriften.
Mit einer Einführung von Dieter Henrich, München 1988, 7-31. Weber spielte auch in der aka-
demischen Karriere von Jaspers eine bedeutende Rolle, weil er mit einem Gutachten dazu
beitrug, dass sich Jaspers an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg mit
dem methodologischen Lehrbuch Allgemeine Psychopathologie für Psychologie habilitieren
konnte. Bei Besuchen im sogenannten »Weber-Kreis« in Heidelberg traf Jaspers prominente
Gelehrte und Wissenschaftler seiner Zeit (Georg Simmel, Emil Lask, Gustav Radbruch,
Ernst Troeltsch u.a.).
Als Weber 1920 starb, hielt Jaspers vor der Heidelberger Studentenschaft eine Gedächt-
nisrede, in der er Weber nicht bloß als Soziologen würdigte, sondern als »existentiellen Phi-
losophen«, der mit seinem Leben, politischem Engagement und seinem Werk »Größe«,
»Wahrhaftigkeit«, »tiefen Ernst«, »Liebe zum Menschen«, »Selbstgenügsamkeit«, »einsame
Unerschütterlichkeit« und »Unbedingtheit im Handeln« vorgelebt habe (vgl. K. Jaspers:
»Max Weber. Eine Gedenkrede«, in: Aneignung und Polemik, 409-423, zitierte Seiten: 413,
418, 420-422). Im Jahr 1932 veröffentlichte Jaspers ein Buch über Weber, in dem er diesen
in dreifacher Hinsicht würdigt: als Politiker, als Forscher und als Philosoph (vgl. K. Jaspers:
Max Weber. Deutsches Wesen im politischen Denken, im Forschen und Philosophieren, Olden-
burg 1932; nach dem Zweiten Weltkrieg erschien dieses Buch in einer weiteren Auflage un-
ter dem geänderten Titel: Max Weber. Politiker, Forscher, Philosoph, München 1958. Im Vor-
wort erklärt Jaspers den Gebrauch der Wortverwendung »Deutsches Wesen« in der ersten
Auflage als Oppositionshaltung gegen die damalige Mystifizierung des »deutschen Wesens«
durch den Nationalsozialismus, vgl. »Eine Gedenkrede«, 425). Für eine zusammenfassende
Ausgabe der Jaspers-Schriften über Max Weber vgl. K. Jaspers: Max Weber. Gesammelte Schrif-
ten, Einführung von D. Henrich, München 1988.
Dass sich in Jaspers’ Nachlass auch Bemerkungen über Webers psychische Krankheit
finden, ist ebenfalls ein Indiz dafür, wie groß Jaspers’ Interesse an der Gesamtpersönlich-
keit Webers war, nicht zuletzt auch als Psychiater. Er diagnostizierte dessen psychische Pro-
bleme nicht als organische Geisteskrankheit, sondern als eine neurologisch bedingte, »heil-
bare funktionelle, unberechenbar, in Schwankungen, verlaufende« psychische Störung
(vgl. K. Jaspers: Die großen Philosophen. Nachlaß, Bd. 1, 649). Zu Webers Krankheit vgl. auch
die Monographie von Webers Frau Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen
1926,247-272, 368-369, 418. Die uneingeschränkte Bewunderung und Wertschätzung der
Persönlichkeit Webers wurde beeinträchtigt, als Jaspers im Jahr 1967 über Eduard Baumgar-
ten Liebesbriefe zu lesen bekam, die Weber an Else Jaffe geschrieben hatte. Die Verheimli-
chung der Liebesbeziehung zu Else Jaffe vor der Ehefrau Marianne erschütterte Jaspers’
Glauben an die »grenzenlose Redlichkeit« seines bisherigen großen Vorbildes in erhebli-
chem Maße (vgl. D. Henrich: »Einführung«, in: K. Jaspers: Max Weber. Gesammelte Schrif-