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Jaspers, Karl; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 3, Band 8,1): Ausgewählte Verlags- und Übersetzerkorrespondenzen — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69893#0039
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XXXVIII

Einleitung des Herausgebers

Dieser soll, unabhängig von den Wahrheitsansprüchen einer Partei, Kirche oder an-
deren Weltanschauungsgemeinschaft, für die Wahrheit um ihrer selbst willen ge-
wonnen werden. Die Propaganda für die Wahrheit engagiert sich also nicht für die
Wahrheit im Plural, nicht für diese oder jene Wahrheit, die mit anderen Wahrheiten
um die Vorherrschaft konkurriert und mit guten oder weniger guten Gründen ver-
fochten werden kann. Diese Form der Propaganda lehnte Jaspers als »advokatorisches
Denken« ab.33 Advokatorisches Denken könne zwar durchaus »wahr« sein, doch sein
Sinn sei »nicht diese Wahrheit, sondern die Wirkung. Die Behauptung der Wahrheit
will nicht diese als solche, sondern will durch Wahrheitsanspruch die Chancen des
Siegs vermehren.«34 Die Propaganda der Wahrheit zielt dagegen auf die Wahrheit
selbst: Was verstehen wir darunter und warum sollen wir unser Leben danach richten?
Diese Frage zu stellen und dabei auf den Weg einer Antwort zu gelangen, ist seit
jeher die Aufgabe der Philosophie und hat mit Propaganda zunächst nichts zu tun.
Mehr noch: Philosophie und Propaganda schließen sich eigentlich aus. Indem die Phi-
losophie nach dem Wesen der Wahrheit fragt, hält sie am metaphysischen Erbe fest,
dass Wahrheit unabhängig vom Menschen besteht und deshalb jenseits menschlicher
Wahrheitsansprüche gesucht werden muss. Die der Philosophie eigene Form des Voll-
zugs ist das Transzendieren über menschliche Wahrheitsansprüche, um der Wahrheit
als solcher, transzendent gegründet und dem besitzergreifenden Zugriff entzogen, zur
Geltung zu verhelfen. Weil aber dieses Wahrheitsverständnis im postmetaphysischen
Zeitalter so weit erschüttert ist, dass es droht, verlorenzugehen, bedarf es der Propa-
ganda, um im öffentlichen Bewusstsein zu bleiben. Damit kommt in das Philosophie-
ren eine gegenläufige Bewegung. Die Schwierigkeit besteht darin, das Transzendieren
über menschliche Wahrheitsansprüche im diskursiven Kampf zwischen ebendiesen
Wahrheitsansprüchen zur Geltung zu bringen, ohne dass es sich seinerseits zu einem
Wahrheitsanspruch verhärtet und, elitär-exklusiv über andere Wahrheiten sich erhe-
bend, Ideologieverdacht erregt. Mit anderen Worten: Die Philosophie muss sich auf
diesen Kampf einlassen und sich ihm zugleich entziehen.
Jaspers löste die Schwierigkeit, indem er sich auf die »Einfachheit« des Philoso-
phierens besann.35 Die Philosophie, die in den Kampf konkurrierender Wahrheitsan-
sprüche eintritt, bleibt der Wahrheit als solcher treu, solange sie zweierlei beherzigt:
Sie darf sich weder in überschwängliche weltanschauliche Spekulationen verwickeln
lassen noch auf gesicherte wissenschaftliche Positionen zurückziehen. Der welt-
anschauliche Jargon ist ihr ebenso verwehrt wie die wissenschaftliche Terminolo-

33 Vgl. das einschlägige Kapitel in K. Jaspers: Von der Wahrheit, 569-571, sowie den Hinweis in Ver-
nunft und Widervernunft in unserer Zeit, 14.
34 K. Jaspers: Von der Wahrheit, 569.
35 Vgl. den einschlägigen Abschnitt in: K. Jaspers: Philosophie 1,266-268.
 
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