Stellenkommentar
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chungen erhalten, alle abgefasst auf Papier der »Literaturbeilage der Deutschen Medizini-
schen Wochenschrift«. Sie betreffen jeweils Neuerscheinungen von 1927 und 1928, so z.B.
Richard Müller-Freienfels’ Metaphysik des Irrationalen (Leipzig 1927), die Jaspers wie folgt
begutachtet: »Die Wissenschaftslage unserer Zeit drängt zu neuer Metaphysik. Es ist die
Frage, auf welchem Wege diese zu machen ist. Dem Verfasser dient eine Typologie mögli-
cher Metaphysiken als Horizont, in dem die eigene Metaphysik eines dynamistischen Ir-
rationalismus zur Darstellung gebracht wird. Metaphysik ist ihm Lehre vom Ganzen der
Welt. Sein Ziel ist, das Weltganze zu begreifen als Harmonie innerhalb unendlicher Indi-
vidualisierung. Das Buch ist ungemein klar und übersichtlich geschrieben. Wenn in der
kurzen Anzeige eine kritische Frage erlaubt ist, so wäre es diese: der Sinn des Verfassers für
das Wesen des Seins als Individualität, über Subjekt-Objekt-Spaltung übergreifende Kraft,
scheint nicht im Einklang zu stehen mit seiner noch fraglos angewendeten Methode ob-
jektivierender Darstellung. Anders ausgedrückt: Es ist fraglich, ob in der Gestalt gegen-
ständlichen Wissens noch eine wirksame, d.h. geglaubte und daher prägende Metaphysik
möglich ist. Der Verfasser spürt die Problematik, steht schon auf der Grenze, aber bleibt in
der nur traditionellen sachlichen Erörterung - innerhalb deren Metaphysik gegenstands-
los* geworden ist -, statt die aus seinem eigenen Grenzbewusstsein vielleicht folgende Er-
neuerung der Methode zur Frage und Aufgabe zu machen.« (DLA, A: Jaspers). - Zu Müller-
Freienfels vgl. auch die Stellenkommentare Nr. 246 u. 259.
334 Gerhard Nebel (1903-1974), Prom. 1927 bei Ernst Hoffmann mit der Dissertation Plotins
Kategorien der intelligiblen Welt. Ein Beitrag zur Geschichte der Idee (Tübingen 1929), anschlie-
ßend im Schuldienst, zweimal suspendiert, zeitweise auch Deutschlehrer Heinrich Bölls.
1941 siedelte er nach Paris über, war dort als Dolmetscher tätig. Dort lernte er auch Ernst
Jünger kennen. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs lebte Nebel zehn Jahre in Wuppertal,
danach im süddeutschen Raum als freier Schriftsteller. Jaspers schätzte insbesondere Ne-
bels Bücher sehr, wie aus folgendem Gutachten vom 22. Februar 1952 hervorgeht: »Herr
Studienrat Dr. Gerhard Nebel ist mir seit seiner Studienzeit persönlich bekannt. Seine
Veröffentlichungen haben auf mich einen grossen Eindruck gemacht. Er steht heute in
der ersten Reihe unserer deutschen Schriftsteller. Vor allem ist er ausgezeichnet durch
seine wissenschaftliche Gründlichkeit, mit der er in seinen Büchern über die Griechen
als klassischer Philologe vorgeht. In seinen Büchern [...] »Griechischer Ursprung«, 1948,
und Weltangst unter Götterzorn, eine Deutung der griechischen Tragödie, 1951, liegen
Leistungen vor, die für die Geschichte der griechischen Philosophie und Literatur von
beträchtlicher Bedeutung sind. Es kann kein Zweifel sein, dass jede Förderung der Arbei-
ten dieses sowohl philosophisch wie wissenschaftlich gewichtigen Mannes voll gerecht-
fertigt ist.« (Durchschlag, DLA, A: Jaspers). - Jaspers besaß von ihm in seiner Bibliothek
zwölf Bücher, von denen er in jedem Fall gelesen, d.h. mit Unterstreichungen oder An-
notationen versah: Griechischer Ursprung (Wuppertal 1948, KJB Oldenburg: KJ 4522); Bei
den nördlichen Hesperiden. Tagebuch aus dem fahre 1942 (Wuppertal 1948, ebd.: KJ 4521);
Ernst Jünger. Abenteuer des Geistes (Wuppertal 1949, ebd.: KJ 7710); Das Ereignis des Schönen
(Stuttgart 1953, ebd.: KJ 4523); Homer (Stuttgart 1959, ebd.: KJ 1237); Pindarund dieDelphik
(Stuttgart 1961, ebd.: KJ 0732); Die Geburt der Philosophie (Stuttgart 1967, ebd.: KJ 4523) -
Zu seinem Leben vgl. G. Nebel: »Alles Gefühl ist leiblich.« Ein Stück Autobiographie, hg. von
N. Riedel, Marbach 2003.
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chungen erhalten, alle abgefasst auf Papier der »Literaturbeilage der Deutschen Medizini-
schen Wochenschrift«. Sie betreffen jeweils Neuerscheinungen von 1927 und 1928, so z.B.
Richard Müller-Freienfels’ Metaphysik des Irrationalen (Leipzig 1927), die Jaspers wie folgt
begutachtet: »Die Wissenschaftslage unserer Zeit drängt zu neuer Metaphysik. Es ist die
Frage, auf welchem Wege diese zu machen ist. Dem Verfasser dient eine Typologie mögli-
cher Metaphysiken als Horizont, in dem die eigene Metaphysik eines dynamistischen Ir-
rationalismus zur Darstellung gebracht wird. Metaphysik ist ihm Lehre vom Ganzen der
Welt. Sein Ziel ist, das Weltganze zu begreifen als Harmonie innerhalb unendlicher Indi-
vidualisierung. Das Buch ist ungemein klar und übersichtlich geschrieben. Wenn in der
kurzen Anzeige eine kritische Frage erlaubt ist, so wäre es diese: der Sinn des Verfassers für
das Wesen des Seins als Individualität, über Subjekt-Objekt-Spaltung übergreifende Kraft,
scheint nicht im Einklang zu stehen mit seiner noch fraglos angewendeten Methode ob-
jektivierender Darstellung. Anders ausgedrückt: Es ist fraglich, ob in der Gestalt gegen-
ständlichen Wissens noch eine wirksame, d.h. geglaubte und daher prägende Metaphysik
möglich ist. Der Verfasser spürt die Problematik, steht schon auf der Grenze, aber bleibt in
der nur traditionellen sachlichen Erörterung - innerhalb deren Metaphysik gegenstands-
los* geworden ist -, statt die aus seinem eigenen Grenzbewusstsein vielleicht folgende Er-
neuerung der Methode zur Frage und Aufgabe zu machen.« (DLA, A: Jaspers). - Zu Müller-
Freienfels vgl. auch die Stellenkommentare Nr. 246 u. 259.
334 Gerhard Nebel (1903-1974), Prom. 1927 bei Ernst Hoffmann mit der Dissertation Plotins
Kategorien der intelligiblen Welt. Ein Beitrag zur Geschichte der Idee (Tübingen 1929), anschlie-
ßend im Schuldienst, zweimal suspendiert, zeitweise auch Deutschlehrer Heinrich Bölls.
1941 siedelte er nach Paris über, war dort als Dolmetscher tätig. Dort lernte er auch Ernst
Jünger kennen. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs lebte Nebel zehn Jahre in Wuppertal,
danach im süddeutschen Raum als freier Schriftsteller. Jaspers schätzte insbesondere Ne-
bels Bücher sehr, wie aus folgendem Gutachten vom 22. Februar 1952 hervorgeht: »Herr
Studienrat Dr. Gerhard Nebel ist mir seit seiner Studienzeit persönlich bekannt. Seine
Veröffentlichungen haben auf mich einen grossen Eindruck gemacht. Er steht heute in
der ersten Reihe unserer deutschen Schriftsteller. Vor allem ist er ausgezeichnet durch
seine wissenschaftliche Gründlichkeit, mit der er in seinen Büchern über die Griechen
als klassischer Philologe vorgeht. In seinen Büchern [...] »Griechischer Ursprung«, 1948,
und Weltangst unter Götterzorn, eine Deutung der griechischen Tragödie, 1951, liegen
Leistungen vor, die für die Geschichte der griechischen Philosophie und Literatur von
beträchtlicher Bedeutung sind. Es kann kein Zweifel sein, dass jede Förderung der Arbei-
ten dieses sowohl philosophisch wie wissenschaftlich gewichtigen Mannes voll gerecht-
fertigt ist.« (Durchschlag, DLA, A: Jaspers). - Jaspers besaß von ihm in seiner Bibliothek
zwölf Bücher, von denen er in jedem Fall gelesen, d.h. mit Unterstreichungen oder An-
notationen versah: Griechischer Ursprung (Wuppertal 1948, KJB Oldenburg: KJ 4522); Bei
den nördlichen Hesperiden. Tagebuch aus dem fahre 1942 (Wuppertal 1948, ebd.: KJ 4521);
Ernst Jünger. Abenteuer des Geistes (Wuppertal 1949, ebd.: KJ 7710); Das Ereignis des Schönen
(Stuttgart 1953, ebd.: KJ 4523); Homer (Stuttgart 1959, ebd.: KJ 1237); Pindarund dieDelphik
(Stuttgart 1961, ebd.: KJ 0732); Die Geburt der Philosophie (Stuttgart 1967, ebd.: KJ 4523) -
Zu seinem Leben vgl. G. Nebel: »Alles Gefühl ist leiblich.« Ein Stück Autobiographie, hg. von
N. Riedel, Marbach 2003.