Stellenkommentar AC 61, KSA 6, S. 250-251 301
jener vergangenen Epoche mit den aktuellen antichristlichen Intentionen statt,
als ob sich die Frontstellung der Renaissance-Intellektuellen zum christlichen
Mittelalter mit derjenigen des spätneuzeitlichen Umwerters zu seiner säkulari-
siert-christlichen Umwelt deckten.
251, 1-12 Ich sehe eine Möglichkeit vor mir von einem vollkommen überirdi-
schen Zauber und Farbenreiz: — es scheint mir, dass sie in allen Schaudern
raffinirter Schönheit erglänzt, dass eine Kunst in ihr am Werke ist, so göttlich,
so teufelsmässig-göttlich, dass man Jahrtausende umsonst nach einer zweiten
solchen Möglichkeit durchsucht; ich sehe ein Schauspiel, so sinnreich, so wun-
derbar paradox zugleich, dass alle Gottheiten des Olymps einen Anlass zu einem
unsterblichen Gelächter gehabt hätten — Cesare Borgia als Papst... Ver-
steht man mich?... Wohlan, das wäre der Sieg gewesen, nach dem ich heute
allein verlange —: damit war das Christenthum abgeschafft!] Der „Angriff"
der Renaissance besteht anscheinend zur Hauptsache nicht in der Neuformie-
rung der Gesellschaft, nicht in der „Entdeckung des Individuums" oder im
neuen, weltlichen Kunstideal. Es geht N. offenbar um das, was die deutsch-
protestantische Geschichtsschreibung als Niedergang des Papsttums zu benen-
nen pflegte. Im Prozess der Feudalisierung und religiösen Entleerung dieser
Institution zeichnet sich nach AC 61 eine neue Werthaltung ab, die die vor-
nehme(n) Moral(en) rehabilitiert. Wenn die Renaissance-Päpste durch Intrigen
und Giftmorde auf den Apostolischen Stuhl gelangen, Krieg führen nicht um
der Religion, sondern um der Vergrößerung ihres Territoriums willen, wenn sie
Hof halten nicht um der Repräsentation ihres religiös begründeten Primates,
sondern um ihres persönlichen Lustgewinns willen, so erkennt das „Ich" darin
Anzeichen genug, dass der „Angriff" wenigstens zur Hälfte gelungen sei. Was
aber bietet Gewähr dafür, dass hier wirklich eine fundamentale Neuorientie-
rung in der Moral stattgefunden hat?
Die Frage ist, ob man mit der herkömmlichen Geschichtsschreibung hier
einfach den „Verfall" am Werke sieht, oder aber eine vollkommene Umkehr
der Handlungsmaximen und Werthaltungen feststellen zu können meint. Für
Letzteres optiert AC 61. Wenn man dem mittelalterlichen Papsttum in globo das
zu sein unterstellt, was es dem eigenen Selbstverständnis nach war, nämlich
die zentrale, das Christentum bewahrende Instanz, fällt es taktisch nicht
schwer, das Renaissance-Papsttum als eine völlig andere, von neuer Herrenmo-
ral getragene Einrichtung auszugeben. Aber auch wer mit Burckhardt zuge-
steht, dass die sogenannte Renaissance einen neuen, dem Christentum fernen
Typus Mensch hervorgebracht habe, muss noch nicht glauben, dass etwas wie
ein Krieg der Werte samt „Angriff" und Verteidigung stattgefunden habe. Es
folgt daraus ferner nicht, dass das Papsttum bereits die neuen Werte repräsen-
jener vergangenen Epoche mit den aktuellen antichristlichen Intentionen statt,
als ob sich die Frontstellung der Renaissance-Intellektuellen zum christlichen
Mittelalter mit derjenigen des spätneuzeitlichen Umwerters zu seiner säkulari-
siert-christlichen Umwelt deckten.
251, 1-12 Ich sehe eine Möglichkeit vor mir von einem vollkommen überirdi-
schen Zauber und Farbenreiz: — es scheint mir, dass sie in allen Schaudern
raffinirter Schönheit erglänzt, dass eine Kunst in ihr am Werke ist, so göttlich,
so teufelsmässig-göttlich, dass man Jahrtausende umsonst nach einer zweiten
solchen Möglichkeit durchsucht; ich sehe ein Schauspiel, so sinnreich, so wun-
derbar paradox zugleich, dass alle Gottheiten des Olymps einen Anlass zu einem
unsterblichen Gelächter gehabt hätten — Cesare Borgia als Papst... Ver-
steht man mich?... Wohlan, das wäre der Sieg gewesen, nach dem ich heute
allein verlange —: damit war das Christenthum abgeschafft!] Der „Angriff"
der Renaissance besteht anscheinend zur Hauptsache nicht in der Neuformie-
rung der Gesellschaft, nicht in der „Entdeckung des Individuums" oder im
neuen, weltlichen Kunstideal. Es geht N. offenbar um das, was die deutsch-
protestantische Geschichtsschreibung als Niedergang des Papsttums zu benen-
nen pflegte. Im Prozess der Feudalisierung und religiösen Entleerung dieser
Institution zeichnet sich nach AC 61 eine neue Werthaltung ab, die die vor-
nehme(n) Moral(en) rehabilitiert. Wenn die Renaissance-Päpste durch Intrigen
und Giftmorde auf den Apostolischen Stuhl gelangen, Krieg führen nicht um
der Religion, sondern um der Vergrößerung ihres Territoriums willen, wenn sie
Hof halten nicht um der Repräsentation ihres religiös begründeten Primates,
sondern um ihres persönlichen Lustgewinns willen, so erkennt das „Ich" darin
Anzeichen genug, dass der „Angriff" wenigstens zur Hälfte gelungen sei. Was
aber bietet Gewähr dafür, dass hier wirklich eine fundamentale Neuorientie-
rung in der Moral stattgefunden hat?
Die Frage ist, ob man mit der herkömmlichen Geschichtsschreibung hier
einfach den „Verfall" am Werke sieht, oder aber eine vollkommene Umkehr
der Handlungsmaximen und Werthaltungen feststellen zu können meint. Für
Letzteres optiert AC 61. Wenn man dem mittelalterlichen Papsttum in globo das
zu sein unterstellt, was es dem eigenen Selbstverständnis nach war, nämlich
die zentrale, das Christentum bewahrende Instanz, fällt es taktisch nicht
schwer, das Renaissance-Papsttum als eine völlig andere, von neuer Herrenmo-
ral getragene Einrichtung auszugeben. Aber auch wer mit Burckhardt zuge-
steht, dass die sogenannte Renaissance einen neuen, dem Christentum fernen
Typus Mensch hervorgebracht habe, muss noch nicht glauben, dass etwas wie
ein Krieg der Werte samt „Angriff" und Verteidigung stattgefunden habe. Es
folgt daraus ferner nicht, dass das Papsttum bereits die neuen Werte repräsen-