310 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum
sehen Revolution, die der Antichrist in seinem antiegalitaristischen und antili-
beralen Gehabe bisher aufs Schärfste meinte verurteilen zu müssen. Dass die
französische Aufklärungsphilosophie nicht bei Voltaires moderatem Aristokra-
tismus stehen blieb, sondern über Rousseau in die Französische Revolution
mündete, kann demjenigen, der mit einer Ständeordnung nach Manu sympa-
thisiert, nicht gleichgültig sein. Repräsentieren die sogenannten „Freiheits-
Kriege" nicht den bis mindestens 1848 erfolgreichen Versuch, die Ständegesell-
schaft des Ancien Regime zu rehabilitieren — eine Gesellschaft, die dem anti-
demokratischen „Ich" als geringeres Übel eigentlich genehm gewesen sein
müsste? Bei solchen Quervergleichen wird die ganze Opposition zu „den Deut-
schen" in Geschichte und Gegenwart plötzlich undurchsichtig — die Barrika-
den, die das „Ich" zwecks Selbstbehauptung aufzieht, geraten ins Wanken.
Mehr Aufschluss verspricht da vielleicht die Abkanzelung des Protestantis-
mus als „unsauberste", „unheilbarste" aber auch „unwiderlegbarste" Art
Christentum. Wenn der Protestantismus „unwiderlegbar" ist, muss man ihm
und all seinen Ausläufern mit polemischen Superlativen begegnen. Offenbar
rührt sein Bedrohungspotential daher, dass er — zumal in der liberalen, kultur-
protestantischen Spielart des späten 19. Jahrhunderts — zwar scheinbar seinen
Frieden mit der „Welt" gemacht hat, aber unterschwellig all jene christlichen
Werturteile weiterträgt, gegen die AC den Krieg erklärt. Er ist „unwiderlegbar",
weil so diffus, so ungreifbar. AC 61 ist auch dem Bismarckschen Reich alles
andere als gewogen, das mit seiner Allianz von Thron und Altar die christli-
chen Wertungsweisen zementiert — ,,[h]eute, wo in dem Weinberg des deut-
schen Geistes die Rhinoxera haust" (NL 1888, KSA 13, 15[26], 421). In einem
Briefentwurf an Helen Zimmern schreibt N. am 08. 12. 1888 über AC „Das Buch
schlägt das Christenthum todt, und außerdem auch noch Bismarck..." (KSB 8,
Nr. 1180, S. 512, Z. 38 f.) Die Alternative heißt Umwertung — was aber Umwer-
tung heißt, ist durch die antideutschen Attacken nicht klarer geworden. Sobald
man näher hinsieht, verschwimmen die scheinbar so klaren Fronten: Liegt
beispielsweise Aufklärung mit ihren anthropologischen und politischen Konse-
quenzen ernsthaft in der Intention desselben „Ichs", das sich für eine hyper-
hierarchische Manu-Gesellschaft einzusetzen scheint, in der es statt gleicher
Rechte für alle nur für einige wenige überhaupt nennenswerte Rechte gibt? Mit
egalitaristischen Konsequenzen der Aufklärung tat man sich in Deutschland
bekanntlich schwer — eben diese Konsequenzen der Aufklärung haben die
von N. beschriebene Reaktion ausgelöst. Der Tadel scheint somit gerade jene
Rückschrittlichkeit zu treffen, die die Deutschen in den Augen des Antichrist
politisch hätte sympathisch machen müssen. An diesen sich perpetuierenden
Widersprüchen zeigt sich, dass AC keine ernstzunehmende politische Alterna-
tive zum Bestehenden zu bieten hat. Was dieses Buch im Sinn zu haben
sehen Revolution, die der Antichrist in seinem antiegalitaristischen und antili-
beralen Gehabe bisher aufs Schärfste meinte verurteilen zu müssen. Dass die
französische Aufklärungsphilosophie nicht bei Voltaires moderatem Aristokra-
tismus stehen blieb, sondern über Rousseau in die Französische Revolution
mündete, kann demjenigen, der mit einer Ständeordnung nach Manu sympa-
thisiert, nicht gleichgültig sein. Repräsentieren die sogenannten „Freiheits-
Kriege" nicht den bis mindestens 1848 erfolgreichen Versuch, die Ständegesell-
schaft des Ancien Regime zu rehabilitieren — eine Gesellschaft, die dem anti-
demokratischen „Ich" als geringeres Übel eigentlich genehm gewesen sein
müsste? Bei solchen Quervergleichen wird die ganze Opposition zu „den Deut-
schen" in Geschichte und Gegenwart plötzlich undurchsichtig — die Barrika-
den, die das „Ich" zwecks Selbstbehauptung aufzieht, geraten ins Wanken.
Mehr Aufschluss verspricht da vielleicht die Abkanzelung des Protestantis-
mus als „unsauberste", „unheilbarste" aber auch „unwiderlegbarste" Art
Christentum. Wenn der Protestantismus „unwiderlegbar" ist, muss man ihm
und all seinen Ausläufern mit polemischen Superlativen begegnen. Offenbar
rührt sein Bedrohungspotential daher, dass er — zumal in der liberalen, kultur-
protestantischen Spielart des späten 19. Jahrhunderts — zwar scheinbar seinen
Frieden mit der „Welt" gemacht hat, aber unterschwellig all jene christlichen
Werturteile weiterträgt, gegen die AC den Krieg erklärt. Er ist „unwiderlegbar",
weil so diffus, so ungreifbar. AC 61 ist auch dem Bismarckschen Reich alles
andere als gewogen, das mit seiner Allianz von Thron und Altar die christli-
chen Wertungsweisen zementiert — ,,[h]eute, wo in dem Weinberg des deut-
schen Geistes die Rhinoxera haust" (NL 1888, KSA 13, 15[26], 421). In einem
Briefentwurf an Helen Zimmern schreibt N. am 08. 12. 1888 über AC „Das Buch
schlägt das Christenthum todt, und außerdem auch noch Bismarck..." (KSB 8,
Nr. 1180, S. 512, Z. 38 f.) Die Alternative heißt Umwertung — was aber Umwer-
tung heißt, ist durch die antideutschen Attacken nicht klarer geworden. Sobald
man näher hinsieht, verschwimmen die scheinbar so klaren Fronten: Liegt
beispielsweise Aufklärung mit ihren anthropologischen und politischen Konse-
quenzen ernsthaft in der Intention desselben „Ichs", das sich für eine hyper-
hierarchische Manu-Gesellschaft einzusetzen scheint, in der es statt gleicher
Rechte für alle nur für einige wenige überhaupt nennenswerte Rechte gibt? Mit
egalitaristischen Konsequenzen der Aufklärung tat man sich in Deutschland
bekanntlich schwer — eben diese Konsequenzen der Aufklärung haben die
von N. beschriebene Reaktion ausgelöst. Der Tadel scheint somit gerade jene
Rückschrittlichkeit zu treffen, die die Deutschen in den Augen des Antichrist
politisch hätte sympathisch machen müssen. An diesen sich perpetuierenden
Widersprüchen zeigt sich, dass AC keine ernstzunehmende politische Alterna-
tive zum Bestehenden zu bieten hat. Was dieses Buch im Sinn zu haben