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Wolgast, Eike [Editor]; Seebaß, Gottfried [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland [Editor]; Arend, Sabine [Oth.]; Sehling, Emil [Bibliogr. antecedent]
Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts (17. Band, 2. Teilband = Baden-Württemberg, 4): Reutlingen, Ulm, Esslingen, Giengen, Biberach, Ravensburg, Wimpfen, Leutkirch, Bopfingen, Aalen — Tübingen: Mohr Siebeck, 2009

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https://doi.org/10.11588/diglit.30657#0485
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Einleitung

gelischen Lehre bekennen, trifft die Ordnung vielfältige Bestimmungen gegen die Laster des Schwörens,
Fluchens, Zutrinkens, Spielens und der Gotteslästerung. Daneben enthält sie umfangreiche Regelungen
zum Eherecht sowie zwei Abschnitte zum Almosen- und Schulwesen.75
Über die Einhaltung der Bestimmungen wachte ein spezielles Gremium: Fünf Zuchtherren (ainiger)
hatten dem Rat über alle sittlichen Vergehen Bericht zu erstatten.76 Diesen Zuchtherren wurden einzelne
Mitglieder aus den Zünften als Denunzianten (angeber) an die Seite gestellt, die auf die Verfehlungen der
Bürger zu achten und den Zuchtherren Meldung zu machen hatten. Die Zuchtordnung zwang die Ravens-
burger Bürgerschaft „zu einer rigorosen gegenseitigen Sittenzucht“.77
Das Regelwerk legte auch die Ehegerichtsbarkeit in die Hand des Rates - ein wichtiger institutioneller
Schritt zur Konsolidierung der Reformation.78 Noch im selben Jahr wurde nach Maßgabe der Zuchtord-
nung ein Ehegericht eingesetzt. Die Ehegerichtsprotokolle, die von 1546 bis 1555 überliefert sind, doku-
mentieren jedoch nur fünf Fälle, so dass das Ravensburger Ehegericht wohl keine große Wirkung
erlangte.79
Die Zuchtordnung von 1546 geht nicht nur auf die lokale Überlieferung in Ravensburg zurück, sondern
ist maßgeblich von gleichartigen Ordnungen anderer Reichsstädte beeinflusst. Direktes Vorbild der Artikel
zur Sittenzucht (ohne Ehe-, Almosen- und Schulartikel) war die von Ambrosius Blarer anhand der Mem-
minger Artikel80 verfasste Konstanzer Zuchtordnung von 1531.81 Ebenso wie in Konstanz war das Gremium
der Zuchtherren auch in Ravensburg eine rein weltliche Behörde unter Ausschluss der Geistlichen. Weiteren
Einfluss auf die Ravensburger Ordnung hatten auch die Zuchtordnungen von Augsburg (1537) und Lindau
(1533).82 Aus Augsburg übernahm man nahezu wörtlich den Abschnitt „Vom Ampt der herrschaften und
diensten“.83 Daneben finden sich inhaltliche Übereinstimmungen zur Biberacher Zucht- und Eheordnung
von 1531,84 die sich ihrerseits an die Ulmer Kirchenordnung von 153185 anlehnt.
Die Veröffentlichung der Ravensburger Zuchtordnung wurde in der Forschung verschiedentlich als reli-
gionspolitischer Richtungswechsel des Rates gedeutet: die Anlehnung an Zuchtordnungen aus Konstanz,
Lindau, Memmingen und Augsburg legt die Vermutung nahe, dass man in Ravensburg von der mit der
brandenburg-nürnbergischen Kirchenordnung (1533) eingeschlagenen wittenbergischen Linie abging und
sich der zwinglianisch-oberdeutschen Ausrichtung annäherte.86 Es erscheint jedoch fraglich, ob mit der

worden. Der hier vorliegende Text ist eindeutig auf den
xi. Oktober datiert. So nur bei Schmauder, Bikonfes-
sionalität, S. 27 und Rudolf, Ravensburg, S. 12.
75 Zum Inhalt siehe Köhler, Ehegericht II, S. 336-342.
Vgl. auch Dreher, Geschichte II, S. 671f.; Hafner,
Geschichte von Ravensburg, S. 499f.
76 Die Institution der fünf Zuchtherren wurde aus Überlin-
gen übernommen, Köhler, Ehegericht II, S. 337. In
Konstanz bestand hingegen ein Vierergremium, Seh-
ling, EKO XVII/1, S. 342.
77 Warmbrunn, Reformatoren, S. 191.
78 Vgl. die Anweisung vom 5. September 1546 (Nr. 4).
79 Köhler, Ehegericht II, S. 344f.; Warmbrunn, Kon-
fessionen, S. 274f. Zum Ravensburger Konsistorium im
18. Jahrhundert siehe Mücke, Streitigkeiten,
S. 251-263.
80 Vgl. Sehling, EKO XVII/1, S. 342 Anm. 112. Abdruck
der Memminger Artikel bei Jäger, Etliche Artikel,
S.436-488.
81 Abdruck bei Sehling, EKO XVII/1, S. 384-409.

82 Vgl. Köhler, Ehegericht II, S. 336f.; Dreher,
Geschichte II, S. 763.
83 So Köhler, Ehegericht II, S. 340; vgl. ebd., S. 299
Anm. 86.
84 Siehe oben, S. 433 und 440.
85 Siehe oben, S. 68 und 124.
86 Warmbrunn, Reformatoren, S. 191: „Der Straßburger
Linie des Ausgleichs zwischen den verschiedenen Rich-
tungen des Protestantismus ist es wohl zuzuschreiben,
dass Ravensburg - nach der lutherisch geprägten Kir-
chenordnung - [...] eine Zuchtordnung erhielt, in der der
zwinglianisch-oberdeutsche Einfluss eindeutig domi-
nierte“; ebenso ders., Konfessionen, S. 62; Hofacker,
Reformation, S. 108: „War die Kirchenordnung mit ihrer
Ausrichtung nach Wittenberg und Nürnberg ein Zeugnis
des steigenden Einflusses des Luthertums gewesen, so
zeigt die Zuchtordnung, daß Ravensburg sich wieder in
die Reihe der reformierten oberdeutschen Städte einord-
nete, die alle die äußere, sichtbare Seite der Kirche
besonders betonten“.

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