Innovation durch »Sezession« – Zur Einführung | 11
Philosophen Ludwig Wittgenstein aus, der 1949 schrieb: »Kultur ist eine Ordensregel.
Oder setzt doch eine Ordensregel voraus«. ¹¹ Überdies, so Wittgenstein weiter,
sei es unmöglich, einer Regel auf private Weise zu folgen. Eine Regelbefolgung sei
nur sinnvoll, wenn es eine Gemeinschaft gebe. Das frühe Mönchtum sei daher in
Nachahmung des »charismatischen Liebeskommunismus« der Urkirche ein übender
Lebensmodus für die bestmögliche Gestaltung einer Gemeinschaft gewesen.
Aus den verschiedenen Gemeinschaften heraus seien die vielfältigen Regeln erst
entstanden, nicht umgekehrt.
Aber, so Sloterdijk, die Regeln führten zu der Bereitschaft, »jeden Handgriff mit
Bedachtsamkeit zu tun und jedes Wort mit Besonnenheit zu sprechen«. ¹² Damit sei
ganz grundsätzlich die Wachsamkeit und Aufmerksamkeit des Menschen gefördert
worden und nicht zuletzt seine Bereitschaft, ganz neue Aufgaben zu übernehmen.
Voraussetzung dafür aber war, dass sich der Mönch von der gewöhnlichen Welt
vollkommen entfernt hatte. Sloterdijk führt hier den Begriff der »Sezession« ein. ¹³
Der Mönch legte sowohl im Sensorischen wie im Sprachlichen die gewöhnlichen
Konventionen vollständig ab. Erst in der neuen Welt der Sezessionsästhetik konnte
er sich der Beschäftigung mit den primären Formen und Fragen des Lebens und
der Lebensordnung widmen. Hier auch erfuhr er einen ganz neuen Selbstbezug,
eine Art »Selbstinsulierung« ¹⁴ . Dadurch fand er zu sich selbst als Individuum. Das
Mönchtum, das aus dem Willen zur Gemeinschaft entstand, brachte auf diese Weise
auch das Gegenteil, das Individuum, zur Geltung – ein Gesichtspunkt, dem auch
Gert Melville große Bedeutung beimisst. ¹⁵
Die »Sezession von der Gewohnheitswelt« ¹⁶ bot dem Mönch nun ganz neue
Horizonte. Hier entstand die Plattform für das Neue. Hier konnten Innovationen
auf allen Gebieten erwachsen. Im Vergleich mit den »Zurückgebliebenen« wurde
der die Welt Verlassende zum Wissenden, die anderen wurden zu Menschen »von
gestern«. ¹⁷
11 Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß, hg. von Georg Henrik
von Wright, neu bearbeitet durch Alois Pichler, Frankfurt am Main 1994, S. 149. Vgl. Thomas
Macho, »Kultur ist eine Ordensregel«. Zur Frage nach der Lesbarkeit von Kulturen als Texten, in: Lesbarkeit
der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, hg. von Gerhard
Neumann/Sigrid Weigel, München 2000, S. 223 –244.
12 Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern (wie Anm. 2), S. 214.
13 Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern (wie Anm. 2), S. 216 ff.
14 Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern (wie Anm. 2), S. 354.
15 Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum, hg. von Gert Melville/Markus
Schürer (Vita Regularis 16), Münster/Hamburg/London 2002.
16 Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern (wie Anm. 2), S. 342.
17 Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern (wie Anm. 2), S. 342.
Philosophen Ludwig Wittgenstein aus, der 1949 schrieb: »Kultur ist eine Ordensregel.
Oder setzt doch eine Ordensregel voraus«. ¹¹ Überdies, so Wittgenstein weiter,
sei es unmöglich, einer Regel auf private Weise zu folgen. Eine Regelbefolgung sei
nur sinnvoll, wenn es eine Gemeinschaft gebe. Das frühe Mönchtum sei daher in
Nachahmung des »charismatischen Liebeskommunismus« der Urkirche ein übender
Lebensmodus für die bestmögliche Gestaltung einer Gemeinschaft gewesen.
Aus den verschiedenen Gemeinschaften heraus seien die vielfältigen Regeln erst
entstanden, nicht umgekehrt.
Aber, so Sloterdijk, die Regeln führten zu der Bereitschaft, »jeden Handgriff mit
Bedachtsamkeit zu tun und jedes Wort mit Besonnenheit zu sprechen«. ¹² Damit sei
ganz grundsätzlich die Wachsamkeit und Aufmerksamkeit des Menschen gefördert
worden und nicht zuletzt seine Bereitschaft, ganz neue Aufgaben zu übernehmen.
Voraussetzung dafür aber war, dass sich der Mönch von der gewöhnlichen Welt
vollkommen entfernt hatte. Sloterdijk führt hier den Begriff der »Sezession« ein. ¹³
Der Mönch legte sowohl im Sensorischen wie im Sprachlichen die gewöhnlichen
Konventionen vollständig ab. Erst in der neuen Welt der Sezessionsästhetik konnte
er sich der Beschäftigung mit den primären Formen und Fragen des Lebens und
der Lebensordnung widmen. Hier auch erfuhr er einen ganz neuen Selbstbezug,
eine Art »Selbstinsulierung« ¹⁴ . Dadurch fand er zu sich selbst als Individuum. Das
Mönchtum, das aus dem Willen zur Gemeinschaft entstand, brachte auf diese Weise
auch das Gegenteil, das Individuum, zur Geltung – ein Gesichtspunkt, dem auch
Gert Melville große Bedeutung beimisst. ¹⁵
Die »Sezession von der Gewohnheitswelt« ¹⁶ bot dem Mönch nun ganz neue
Horizonte. Hier entstand die Plattform für das Neue. Hier konnten Innovationen
auf allen Gebieten erwachsen. Im Vergleich mit den »Zurückgebliebenen« wurde
der die Welt Verlassende zum Wissenden, die anderen wurden zu Menschen »von
gestern«. ¹⁷
11 Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß, hg. von Georg Henrik
von Wright, neu bearbeitet durch Alois Pichler, Frankfurt am Main 1994, S. 149. Vgl. Thomas
Macho, »Kultur ist eine Ordensregel«. Zur Frage nach der Lesbarkeit von Kulturen als Texten, in: Lesbarkeit
der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, hg. von Gerhard
Neumann/Sigrid Weigel, München 2000, S. 223 –244.
12 Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern (wie Anm. 2), S. 214.
13 Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern (wie Anm. 2), S. 216 ff.
14 Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern (wie Anm. 2), S. 354.
15 Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum, hg. von Gert Melville/Markus
Schürer (Vita Regularis 16), Münster/Hamburg/London 2002.
16 Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern (wie Anm. 2), S. 342.
17 Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern (wie Anm. 2), S. 342.