Annäherung an Gott im Kloster | 71
umso lieber wird man hier leben. ⁴⁴ Wilhelm von St. Thierry, der langjährige Abt eines
Benediktinerklosters, der die letzten zwölf Jahre seines Lebens als Zisterzienser
zugebracht hat, trägt in seiner an die Mönche der Kartause Mont-Dieu in den französischen
Ardennen gerichteten Epistola aurea ⁴⁵ das Hohe Lied der Zelle vor: In
der Zelle finde ein intensiverer Umgang mit dem Göttlichen statt als in der Kirche,
in der die Sakramente gelegentlich sichtbar und gestalthaft ausgeteilt werden. ⁴⁶ Wer
in der Zelle lebe, der habe eigentlich die irdische Zelle hinter sich gelassen und lebe
in Wirklichkeit schon zusammen mit Gott im Himmel; denn wie in ihren Namen
cella und caelum, so seien Zelle und Himmel auch in ihrem Wesen miteinander
verwandt. Beide scheinen nämlich ihren Namen vom Wort celare (»verbergen«)
zu haben. Was im Himmel verborgen sei oder getan werde, das werde auch in der
Zelle verborgen oder getan: das Freisein für Gott und der intensivste Umgang mit
Gott (frui Deo). ⁴⁷ Die Zelle sei gleichsam der Mutterleib des Kartäusers. Sie wärme,
sie ernähre, sie umschließe den Mönch als den Sohn der Gnade wie die Frucht ihres
Leibes und führe ihn zur Fülle der Vollkommenheit, mache ihn würdig der Zwiesprache
mit Gott. ⁴⁸ »Der nämlich, bei dem Gott ist, der ist niemals weniger allein
als wenn er allein ist.« ⁴⁹ Die Zelle sei demnach heiliges Land und ein heiliger Ort,
wo der Herr und sein Diener oft freundschaftlich miteinander sprechen, wo sich
die gläubige Seele häufig mit dem Wort Gottes verbinde, die Braut zum Bräutigam
geselle, Göttliches mit Menschlichem vereine. ⁵⁰ Wilhelm kann auch zwischen einer
äußeren und einer inneren Zelle unterscheiden: Die äußere sei das Haus, in dem der
44 Guigues I ᵉʳ , Coutumes de Chartreuses (wie Anm. 27), cap. 31, 1, S. 232, Z. 7 f.
45 Vgl. dazu Michaela Pfeifer, Wilhelms von Saint-Thierry Goldener Brief und seine Bedeutung für die
Zisterzienser, in: Analecta Cisterciensia 50, 1994, S. 3 –250; und in: Analecta Cisterciensia 51, 1995,
S. 3 –109; auch separat: Michaela Pfeifer, Wilhelms von Saint-Thierry Goldener Brief und seine Bedeutung
für die Zisterzienser (Pontificium Athenaeum S. Anselmi de Urbe. Facultas Sacrae Theologiae,
Thesis ad Lauream 169), Rom 1995.
46 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre aux frères du Mont-Dieu (Lettre d’or), hg. von Jean Déchanet
(Sources chrétiennes 223/Série des textes monastiques d’Occident 45), 2. Aufl. Paris 1985, cap. 36, S. 172:
Et in templo enim et in cella divina tractantur, sed crebrius in cella.
47 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 31, S. 168 –170: secundum formam propositi
vestri, habitantes in caelis potius quam in cellis, excluso a vobis toto saeculo, totos vos inclusistis cum
Deo. Cellae siquidem et caeli habitatio cognatae sunt; quia sicut caelum ac cella ad invicem videntur
habere aliquam cognationem nominis, sic etiam pietatis. A celando enim et caelum et cella nomen habere
videntur. Et quod celatur in caelis, hoc et in cellis; quod geritur in caelis, hoc et in cellis. Quidnam
hoc est? Vacare Deo, frui Deo.
48 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 34, S. 170: Filium enim gratiae, fructum ventris
sui cella fovet, nutrit, amplectitur et ad plenitudinem perfectionis perducit et colloquio Dei dignum
efficit.
49 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 30, S. 168: Cum quo enim Deus est, numquam
minus est solus, quam cum solus est.
50 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 35, S. 172: Cella terra sancta et locus sanctus est,
in qua Dominus et servus ejus saepe collocuntur, sicut vir ad amicum suum; in qua crebro fidelis anima
Verbo Dei conjungitur, sponsa sponso sociatur, terrenis celestia, humanis divina uniuntur.
umso lieber wird man hier leben. ⁴⁴ Wilhelm von St. Thierry, der langjährige Abt eines
Benediktinerklosters, der die letzten zwölf Jahre seines Lebens als Zisterzienser
zugebracht hat, trägt in seiner an die Mönche der Kartause Mont-Dieu in den französischen
Ardennen gerichteten Epistola aurea ⁴⁵ das Hohe Lied der Zelle vor: In
der Zelle finde ein intensiverer Umgang mit dem Göttlichen statt als in der Kirche,
in der die Sakramente gelegentlich sichtbar und gestalthaft ausgeteilt werden. ⁴⁶ Wer
in der Zelle lebe, der habe eigentlich die irdische Zelle hinter sich gelassen und lebe
in Wirklichkeit schon zusammen mit Gott im Himmel; denn wie in ihren Namen
cella und caelum, so seien Zelle und Himmel auch in ihrem Wesen miteinander
verwandt. Beide scheinen nämlich ihren Namen vom Wort celare (»verbergen«)
zu haben. Was im Himmel verborgen sei oder getan werde, das werde auch in der
Zelle verborgen oder getan: das Freisein für Gott und der intensivste Umgang mit
Gott (frui Deo). ⁴⁷ Die Zelle sei gleichsam der Mutterleib des Kartäusers. Sie wärme,
sie ernähre, sie umschließe den Mönch als den Sohn der Gnade wie die Frucht ihres
Leibes und führe ihn zur Fülle der Vollkommenheit, mache ihn würdig der Zwiesprache
mit Gott. ⁴⁸ »Der nämlich, bei dem Gott ist, der ist niemals weniger allein
als wenn er allein ist.« ⁴⁹ Die Zelle sei demnach heiliges Land und ein heiliger Ort,
wo der Herr und sein Diener oft freundschaftlich miteinander sprechen, wo sich
die gläubige Seele häufig mit dem Wort Gottes verbinde, die Braut zum Bräutigam
geselle, Göttliches mit Menschlichem vereine. ⁵⁰ Wilhelm kann auch zwischen einer
äußeren und einer inneren Zelle unterscheiden: Die äußere sei das Haus, in dem der
44 Guigues I ᵉʳ , Coutumes de Chartreuses (wie Anm. 27), cap. 31, 1, S. 232, Z. 7 f.
45 Vgl. dazu Michaela Pfeifer, Wilhelms von Saint-Thierry Goldener Brief und seine Bedeutung für die
Zisterzienser, in: Analecta Cisterciensia 50, 1994, S. 3 –250; und in: Analecta Cisterciensia 51, 1995,
S. 3 –109; auch separat: Michaela Pfeifer, Wilhelms von Saint-Thierry Goldener Brief und seine Bedeutung
für die Zisterzienser (Pontificium Athenaeum S. Anselmi de Urbe. Facultas Sacrae Theologiae,
Thesis ad Lauream 169), Rom 1995.
46 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre aux frères du Mont-Dieu (Lettre d’or), hg. von Jean Déchanet
(Sources chrétiennes 223/Série des textes monastiques d’Occident 45), 2. Aufl. Paris 1985, cap. 36, S. 172:
Et in templo enim et in cella divina tractantur, sed crebrius in cella.
47 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 31, S. 168 –170: secundum formam propositi
vestri, habitantes in caelis potius quam in cellis, excluso a vobis toto saeculo, totos vos inclusistis cum
Deo. Cellae siquidem et caeli habitatio cognatae sunt; quia sicut caelum ac cella ad invicem videntur
habere aliquam cognationem nominis, sic etiam pietatis. A celando enim et caelum et cella nomen habere
videntur. Et quod celatur in caelis, hoc et in cellis; quod geritur in caelis, hoc et in cellis. Quidnam
hoc est? Vacare Deo, frui Deo.
48 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 34, S. 170: Filium enim gratiae, fructum ventris
sui cella fovet, nutrit, amplectitur et ad plenitudinem perfectionis perducit et colloquio Dei dignum
efficit.
49 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 30, S. 168: Cum quo enim Deus est, numquam
minus est solus, quam cum solus est.
50 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 35, S. 172: Cella terra sancta et locus sanctus est,
in qua Dominus et servus ejus saepe collocuntur, sicut vir ad amicum suum; in qua crebro fidelis anima
Verbo Dei conjungitur, sponsa sponso sociatur, terrenis celestia, humanis divina uniuntur.