Deuten, Ordnen und Aneignen | 223
Die Betrachtung der Entstehungs- wie der Nutzungskontexte des Elucidarium
führt somit einen graduellen Prozess des 11. und 12. Jahrhunderts vor Augen: Spezifische
gesellschaftliche Tendenzen förderten ein gesteigertes Interesse für neue gelehrte
Lösungsentwürfe und begünstigten so die Entstehung und Verbreitung neuer
Formen von Expertise. Klösterliche Gemeinschaften werden dabei in verschiedenen
Rollen sichtbar: Das alte, hauptsächlich benediktinische Mönchtum war oftmals
wie der Klerus in die Seelsorge eingebunden, hatte aber in vielen Fällen gegenüber
dem Lokalklerus einen erheblichen Vorsprung kultureller Ressourcen. Ein gesteigerter
Bedarf und intensivierte religiöse und intellektuelle Ansprüche gingen zudem
von reformierten monastischen Gründungen und den neuen Regularkanonikerverbänden
des 11. und frühen 12. Jahrhunderts aus, die einen wesentlichen Faktor im
Prozess der inneren Verdichtung und Zentralisierung der römischen Kirche und im
Zusammenwachsen europäischer Regionen darstellten. Klösterliche und kanonikale
Zentren und Netzwerke wurden also gleich in dreierlei Hinsicht bedeutend für
neue gesellschaftliche Normen und gelehrte Konfliktlösungen: (1) Teils waren sie
aufgrund vorhandener Ressourcen Wissensproduzenten und sozusagen »Labore«,
die Neues bereitstellten. (2) Teils waren sie wegen des gesteigerten Bedarfs gleichzeitig
die »Experimentierfelder« wie die Abnehmer des neuen Wissens aus alten
Versatzstücken. (3) Darüber hinaus bildeten sie durch Verbandsbildungen oder
durch personale Vernetzung oftmals die Kommunikationsnetzwerke, in denen neue
Lösungsmodelle verbreitet wurden und wichtige Resonanzen erfuhren.
Anselm von Laon und Rupert von Deutz:
Sammlung und Ordnung neuen Wissens
Wenn man den Blick über Honorius Augustodunensis und seine unmittelbar klösterlichen
Kontexte hinaus ausweitet, zeigt sich schnell, dass das Hinzutreten von
»Schulen« die bislang beschriebenen Transformationsprozesse religiösen Wissens
zwar veränderte – aber vielleicht doch nicht in der oft imaginierten revolutionären
Weise. Großenteils waren Gelehrte an Kathedralschulen, die seit dem späten 9. Jahrhundert
vor allem als Ausbildungsorte für kirchliche und höfische Eliten hervorgetreten
waren, ⁴² in ähnlichen Rollen an den diversen Debatten und Reformen des
42 Vgl. zu Kathedralschulen des Hochmittelalters grundlegend Charles Stephen Jaeger, The Envy of Angels.
Cathedral Schools and Social Ideals in Medieval Europe, 950 –1200, Philadelphia 1994; Ders., Scholars
and Courtiers: Intellectuals and Society in the Medieval West (Variorum Collected Studies Series 753),
Aldershot 2002; Steckel, Kulturen des Lehrens (wie Anm. 11), S. 689 – 862; Mia Münster-Swendsen,
Regimens of Schooling, in: The Oxford Handbook of Medieval Latin Literature, hg. von Ralph Hexter/
David Townsend, New York 2011, S. 403 – 421.
Die Betrachtung der Entstehungs- wie der Nutzungskontexte des Elucidarium
führt somit einen graduellen Prozess des 11. und 12. Jahrhunderts vor Augen: Spezifische
gesellschaftliche Tendenzen förderten ein gesteigertes Interesse für neue gelehrte
Lösungsentwürfe und begünstigten so die Entstehung und Verbreitung neuer
Formen von Expertise. Klösterliche Gemeinschaften werden dabei in verschiedenen
Rollen sichtbar: Das alte, hauptsächlich benediktinische Mönchtum war oftmals
wie der Klerus in die Seelsorge eingebunden, hatte aber in vielen Fällen gegenüber
dem Lokalklerus einen erheblichen Vorsprung kultureller Ressourcen. Ein gesteigerter
Bedarf und intensivierte religiöse und intellektuelle Ansprüche gingen zudem
von reformierten monastischen Gründungen und den neuen Regularkanonikerverbänden
des 11. und frühen 12. Jahrhunderts aus, die einen wesentlichen Faktor im
Prozess der inneren Verdichtung und Zentralisierung der römischen Kirche und im
Zusammenwachsen europäischer Regionen darstellten. Klösterliche und kanonikale
Zentren und Netzwerke wurden also gleich in dreierlei Hinsicht bedeutend für
neue gesellschaftliche Normen und gelehrte Konfliktlösungen: (1) Teils waren sie
aufgrund vorhandener Ressourcen Wissensproduzenten und sozusagen »Labore«,
die Neues bereitstellten. (2) Teils waren sie wegen des gesteigerten Bedarfs gleichzeitig
die »Experimentierfelder« wie die Abnehmer des neuen Wissens aus alten
Versatzstücken. (3) Darüber hinaus bildeten sie durch Verbandsbildungen oder
durch personale Vernetzung oftmals die Kommunikationsnetzwerke, in denen neue
Lösungsmodelle verbreitet wurden und wichtige Resonanzen erfuhren.
Anselm von Laon und Rupert von Deutz:
Sammlung und Ordnung neuen Wissens
Wenn man den Blick über Honorius Augustodunensis und seine unmittelbar klösterlichen
Kontexte hinaus ausweitet, zeigt sich schnell, dass das Hinzutreten von
»Schulen« die bislang beschriebenen Transformationsprozesse religiösen Wissens
zwar veränderte – aber vielleicht doch nicht in der oft imaginierten revolutionären
Weise. Großenteils waren Gelehrte an Kathedralschulen, die seit dem späten 9. Jahrhundert
vor allem als Ausbildungsorte für kirchliche und höfische Eliten hervorgetreten
waren, ⁴² in ähnlichen Rollen an den diversen Debatten und Reformen des
42 Vgl. zu Kathedralschulen des Hochmittelalters grundlegend Charles Stephen Jaeger, The Envy of Angels.
Cathedral Schools and Social Ideals in Medieval Europe, 950 –1200, Philadelphia 1994; Ders., Scholars
and Courtiers: Intellectuals and Society in the Medieval West (Variorum Collected Studies Series 753),
Aldershot 2002; Steckel, Kulturen des Lehrens (wie Anm. 11), S. 689 – 862; Mia Münster-Swendsen,
Regimens of Schooling, in: The Oxford Handbook of Medieval Latin Literature, hg. von Ralph Hexter/
David Townsend, New York 2011, S. 403 – 421.