Deuten, Ordnen und Aneignen | 225
und Praktiken kirchlicher, aber auch höfischer Moral und Ethik vermittelt. ⁴⁵ Nun
vollzogen sich Spezialisierungen: Zu einem schon mit dem beginnenden 11. Jahrhundert
steigenden Bedarf an rechtlicher Expertise trat die Notwendigkeit einer
umfassenderen Ausbildung in Fragen der christlichen Lehre. Einige Kathedralschulen
wurden daher Knotenpunkte der Erarbeitung und Vermittlung spezialisierteren
Wissens über die kirchlichen Überlieferungen.
Den exemplarischen Fall der Transformation bietet die Schule von Laon unter
Anselm von Laon († 1117), einem Zeitgenossen Anselms von Canterbury und Honorius’
Augustodunensis, dem man den Ehrentitel eines »Vaters der Scholastik«
und »Lehrer zukünftiger Lehrer« beigelegt hat. ⁴⁶ Anselm von Laon ging wie eine
Handvoll von Vorgängern des 11. Jahrhunderts wohl um 1080 dazu über, nicht
nur die Artes liberales, sondern auch die Bibel in seinem Unterricht zu lesen und
zu kommentieren. Ähnlich wie bei Honorius Augustodunensis war eines der Anliegen
Anselms von Laon die Erarbeitung von gelehrten Erläuterungen, die in der
Seelsorge nutzbar waren. Teils verwendete er sogar spezifische Quellen, die auch
von Honorius verarbeitet wurden. ⁴⁷ In langen Jahren des Unterrichts produzierten
jedoch weder Anselm von Laon selbst noch sein Bruder und Mitarbeiter Radulf
(† 1131/1133) ein Überblickswerk, wie es Honorius vorgelegt hatte. Tatsächlich
muss man Vorsicht walten lassen, wenn man Anselm von Laon überhaupt Werke
zuschreibt: Wie besonders Cédric Giraud in seiner klärenden Studie zu Anselm
gezeigt hat, existieren zwar Wissenssammlungen, die ihm zugeschrieben werden.
Doch resultierte seine Arbeit nicht in einem festen Textkorpus, sondern war gro-
45 Vgl. die Literatur oben bei Anm. 42.
46 Vgl. zu Anselm Giraud, Per verba magistri (wie Anm. 4); Cédric Giraud/Constant J. Mews, Le Liber
pancrisis, un florilège des pères et des maîtres moderns du Xll ᵉ siecle, in: Archivum latinitatis medii aevi
65, 2007, S. 145 –191; Cédric Giraud, Per verba magistri. La langue des maîtres théologiens au premier
XII ᵉ siècle, in: Zwischen Babel und Pfingsten. Sprachdifferenzen und Gesprächsverständigung in der
Vormoderne (8.–16. Jahrhundert). Akten der 3. deutsch-französischen Tagung des Arbeitskreises »Gesellschaft
und Individuelle Kommunikation in der Vormoderne« (GIK) in Verbindung mit dem Historischen
Seminar der Universität Luzern, Höhenscheid (Kassel) 16. 11.–19. 11. 2006, hg. von Peter von Moos,
Wien/Zürich/Berlin u. a. 2008, S. 357–374; sowie zuletzt Alexander Andrée, Anselm of Laon Unveiled:
The Glosae Svper Iohannem and the Origins of the Glossa ordinaria on the Bible, in: Mediaeval Studies
73, 2011, S. 217–260. Aus der älteren Forschung vgl. Flint, The »School of Laon« (wie Anm. 15); Marcia
L. Colish, Another Look at the School of Laon, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen
âge 61, 1986, S. 7–22. Die zitierten Epitheta bei Martin Grabmann, Die Geschichte der scholastischen
Methode. Nach den gedruckten und ungedruckten Quellen, Bd. 1: Die Scholastik von ihren ersten Anfängen
bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts, Berlin/Karlsruhe/München 1909, S. 258 und Southern,
Scholastic Humanism (wie Anm. 6), Bd. 2, S. 25.
47 Der Hinweis auf Ähnlichkeiten zwischen den Anliegen Anselms von Laon und Honorius’ Augustodensis
bereits bei Franz Plazidus Bliemetzrieder, L’Oeuvre d’Anselme de Laon et la littérature théologique
contemporaine. I. Honorius d’Autun, in: Recherches de théologie ancienne et médiévale 5, 1933, S. 275 –
291; Dokumentation identischer Quellen bei Flint, The »Elucidarius« (wie Anm. 19), S. 180 –181. Zur
Anlage Gottschall, Das »Elucidarium« (wie Anm. 19), S. 16 –17.
und Praktiken kirchlicher, aber auch höfischer Moral und Ethik vermittelt. ⁴⁵ Nun
vollzogen sich Spezialisierungen: Zu einem schon mit dem beginnenden 11. Jahrhundert
steigenden Bedarf an rechtlicher Expertise trat die Notwendigkeit einer
umfassenderen Ausbildung in Fragen der christlichen Lehre. Einige Kathedralschulen
wurden daher Knotenpunkte der Erarbeitung und Vermittlung spezialisierteren
Wissens über die kirchlichen Überlieferungen.
Den exemplarischen Fall der Transformation bietet die Schule von Laon unter
Anselm von Laon († 1117), einem Zeitgenossen Anselms von Canterbury und Honorius’
Augustodunensis, dem man den Ehrentitel eines »Vaters der Scholastik«
und »Lehrer zukünftiger Lehrer« beigelegt hat. ⁴⁶ Anselm von Laon ging wie eine
Handvoll von Vorgängern des 11. Jahrhunderts wohl um 1080 dazu über, nicht
nur die Artes liberales, sondern auch die Bibel in seinem Unterricht zu lesen und
zu kommentieren. Ähnlich wie bei Honorius Augustodunensis war eines der Anliegen
Anselms von Laon die Erarbeitung von gelehrten Erläuterungen, die in der
Seelsorge nutzbar waren. Teils verwendete er sogar spezifische Quellen, die auch
von Honorius verarbeitet wurden. ⁴⁷ In langen Jahren des Unterrichts produzierten
jedoch weder Anselm von Laon selbst noch sein Bruder und Mitarbeiter Radulf
(† 1131/1133) ein Überblickswerk, wie es Honorius vorgelegt hatte. Tatsächlich
muss man Vorsicht walten lassen, wenn man Anselm von Laon überhaupt Werke
zuschreibt: Wie besonders Cédric Giraud in seiner klärenden Studie zu Anselm
gezeigt hat, existieren zwar Wissenssammlungen, die ihm zugeschrieben werden.
Doch resultierte seine Arbeit nicht in einem festen Textkorpus, sondern war gro-
45 Vgl. die Literatur oben bei Anm. 42.
46 Vgl. zu Anselm Giraud, Per verba magistri (wie Anm. 4); Cédric Giraud/Constant J. Mews, Le Liber
pancrisis, un florilège des pères et des maîtres moderns du Xll ᵉ siecle, in: Archivum latinitatis medii aevi
65, 2007, S. 145 –191; Cédric Giraud, Per verba magistri. La langue des maîtres théologiens au premier
XII ᵉ siècle, in: Zwischen Babel und Pfingsten. Sprachdifferenzen und Gesprächsverständigung in der
Vormoderne (8.–16. Jahrhundert). Akten der 3. deutsch-französischen Tagung des Arbeitskreises »Gesellschaft
und Individuelle Kommunikation in der Vormoderne« (GIK) in Verbindung mit dem Historischen
Seminar der Universität Luzern, Höhenscheid (Kassel) 16. 11.–19. 11. 2006, hg. von Peter von Moos,
Wien/Zürich/Berlin u. a. 2008, S. 357–374; sowie zuletzt Alexander Andrée, Anselm of Laon Unveiled:
The Glosae Svper Iohannem and the Origins of the Glossa ordinaria on the Bible, in: Mediaeval Studies
73, 2011, S. 217–260. Aus der älteren Forschung vgl. Flint, The »School of Laon« (wie Anm. 15); Marcia
L. Colish, Another Look at the School of Laon, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen
âge 61, 1986, S. 7–22. Die zitierten Epitheta bei Martin Grabmann, Die Geschichte der scholastischen
Methode. Nach den gedruckten und ungedruckten Quellen, Bd. 1: Die Scholastik von ihren ersten Anfängen
bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts, Berlin/Karlsruhe/München 1909, S. 258 und Southern,
Scholastic Humanism (wie Anm. 6), Bd. 2, S. 25.
47 Der Hinweis auf Ähnlichkeiten zwischen den Anliegen Anselms von Laon und Honorius’ Augustodensis
bereits bei Franz Plazidus Bliemetzrieder, L’Oeuvre d’Anselme de Laon et la littérature théologique
contemporaine. I. Honorius d’Autun, in: Recherches de théologie ancienne et médiévale 5, 1933, S. 275 –
291; Dokumentation identischer Quellen bei Flint, The »Elucidarius« (wie Anm. 19), S. 180 –181. Zur
Anlage Gottschall, Das »Elucidarium« (wie Anm. 19), S. 16 –17.