Deuten, Ordnen und Aneignen | 243
Wissensbeständen bleibt zwar großenteils implizit, ja muss teils aus dem Bildprogramm
des Hortus deliciarum rekonstruiert werden. ¹⁰⁶ Doch zeigen die vorliegenden
Interpretationsansätze, dass die Innovativität Herrads gerade nicht nur in ihrer
Rezeption der Theologie der Schulen liegt, die bei Autoren und Autorinnen klösterlicher
Wissenskompendien letztlich sowieso Standard ist. Herrads Innovation
liegt auch in einer sehr eigenständigen Selektion möglicher Wissensbestände, die sie
in eigener Weise kombiniert und anordnet.
Mit ihrer bildlichen Darstellung der Artes liberales, die Anleihen bei der Wissenschaftstheorie
Hugos von St. Viktor macht, legte Herrad etwa ihrem Werk eine
theoretische Fundierung unter: ¹⁰⁷ Sie verwies auf die Philosophie und deren Teildisziplinen
als ordnendes Prinzip und machte so deutlich, in selektiver Weise nur
Wissen einschließen zu wollen, das zum Kanon wissenschaftlichen Wissens gehörte.
Die an sich nützlichen, aber unwissenschaftlichen Dichter (poetae) blieben in ihrer
bildlichen Darstellung außerhalb des Kreises der Philosophia. Die derart bildlich
angedeutete, von Herrad souverän durchdachte Wissensordnung zeigt sich auch
in den Details ihrer Textauswahl. Wie die Studien von Griffiths, Green und anderen
zeigen, ersetzte Herrad etwa just die theologischen Passagen des Honorius
Augustodunensis, die veraltet waren (vor allem die Eucharistielehre) mit dem neuesten
Stand des Petrus Lombardus. ¹⁰⁸ Sie tilgte außerdem den Namen Bernhards
von Clairvaux, obwohl sie ihn zitierte. Wie Griffiths herausstellt, ¹⁰⁹ dürfte dies ein
Einfluss der Kanoniker von Marbach sein, unter denen mit Hugo von Honau ein
Schüler Gilberts von Poitiers und Gegner Bernhards von Clairvaux saß – zwischen
letzteren beiden Gestalten hatte es 1147/1148 einen heftigen Konflikt gegeben. ¹¹⁰
Man kann den Abgrenzungsvorgang aber auch noch genauer nuancieren: Obwohl
der erwähnte Hugo von Honau eine richtiggehende Kampagne zur Verbreitung der
Werke Gilberts von Poitiers betrieb, zitierte Herrad auch ihn nicht prominent. ¹¹¹
Sie hielt sich damit aus dem Konflikt Hugos von Honau sozusagen heraus und
erweist sich in ihrer Auswahl als durchaus selbständig gegenüber schulischen Ideengebern.
Darin zeigt sich nicht zuletzt wohl der relativ breite Handlungsspielraum,
der sich für das gut vernetzten Elsässer Stift ergab, das mit den schulischen
Netzwerken Nordfrankreichs, mit lokalen kanonikalen Verbänden und schließlich
über die benachbarten Pfalzen mit höfischen Kreisen in Verbindung stand. ¹¹² Doch
106 Vgl. dazu bes. Mersch, Innovationen (wie Anm. 2).
107 Vgl. Mersch, Innovationen (wie Anm. 2), S. 234 –238.
108 Vgl. Bischoff, Le Texte (wie Anm. 28), S. 50 f.
109 Vgl. Griffiths, The Garden of Delights (wie Anm. 3), S. 78.
110 Vgl. mit Verweisen auf die Literatur Steckel, Kulturen des Lehrens (wie Anm. 11), S. 1098 –1124.
111 Vgl. Griffiths, Garden of Delights (wie Anm. 3), S. 78 – 80.
112 Vgl. allgemein Huth, Staufische »Reichshistoriographie« (wie Anm. 15), bes. S. 123 –147.
Wissensbeständen bleibt zwar großenteils implizit, ja muss teils aus dem Bildprogramm
des Hortus deliciarum rekonstruiert werden. ¹⁰⁶ Doch zeigen die vorliegenden
Interpretationsansätze, dass die Innovativität Herrads gerade nicht nur in ihrer
Rezeption der Theologie der Schulen liegt, die bei Autoren und Autorinnen klösterlicher
Wissenskompendien letztlich sowieso Standard ist. Herrads Innovation
liegt auch in einer sehr eigenständigen Selektion möglicher Wissensbestände, die sie
in eigener Weise kombiniert und anordnet.
Mit ihrer bildlichen Darstellung der Artes liberales, die Anleihen bei der Wissenschaftstheorie
Hugos von St. Viktor macht, legte Herrad etwa ihrem Werk eine
theoretische Fundierung unter: ¹⁰⁷ Sie verwies auf die Philosophie und deren Teildisziplinen
als ordnendes Prinzip und machte so deutlich, in selektiver Weise nur
Wissen einschließen zu wollen, das zum Kanon wissenschaftlichen Wissens gehörte.
Die an sich nützlichen, aber unwissenschaftlichen Dichter (poetae) blieben in ihrer
bildlichen Darstellung außerhalb des Kreises der Philosophia. Die derart bildlich
angedeutete, von Herrad souverän durchdachte Wissensordnung zeigt sich auch
in den Details ihrer Textauswahl. Wie die Studien von Griffiths, Green und anderen
zeigen, ersetzte Herrad etwa just die theologischen Passagen des Honorius
Augustodunensis, die veraltet waren (vor allem die Eucharistielehre) mit dem neuesten
Stand des Petrus Lombardus. ¹⁰⁸ Sie tilgte außerdem den Namen Bernhards
von Clairvaux, obwohl sie ihn zitierte. Wie Griffiths herausstellt, ¹⁰⁹ dürfte dies ein
Einfluss der Kanoniker von Marbach sein, unter denen mit Hugo von Honau ein
Schüler Gilberts von Poitiers und Gegner Bernhards von Clairvaux saß – zwischen
letzteren beiden Gestalten hatte es 1147/1148 einen heftigen Konflikt gegeben. ¹¹⁰
Man kann den Abgrenzungsvorgang aber auch noch genauer nuancieren: Obwohl
der erwähnte Hugo von Honau eine richtiggehende Kampagne zur Verbreitung der
Werke Gilberts von Poitiers betrieb, zitierte Herrad auch ihn nicht prominent. ¹¹¹
Sie hielt sich damit aus dem Konflikt Hugos von Honau sozusagen heraus und
erweist sich in ihrer Auswahl als durchaus selbständig gegenüber schulischen Ideengebern.
Darin zeigt sich nicht zuletzt wohl der relativ breite Handlungsspielraum,
der sich für das gut vernetzten Elsässer Stift ergab, das mit den schulischen
Netzwerken Nordfrankreichs, mit lokalen kanonikalen Verbänden und schließlich
über die benachbarten Pfalzen mit höfischen Kreisen in Verbindung stand. ¹¹² Doch
106 Vgl. dazu bes. Mersch, Innovationen (wie Anm. 2).
107 Vgl. Mersch, Innovationen (wie Anm. 2), S. 234 –238.
108 Vgl. Bischoff, Le Texte (wie Anm. 28), S. 50 f.
109 Vgl. Griffiths, The Garden of Delights (wie Anm. 3), S. 78.
110 Vgl. mit Verweisen auf die Literatur Steckel, Kulturen des Lehrens (wie Anm. 11), S. 1098 –1124.
111 Vgl. Griffiths, Garden of Delights (wie Anm. 3), S. 78 – 80.
112 Vgl. allgemein Huth, Staufische »Reichshistoriographie« (wie Anm. 15), bes. S. 123 –147.