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Innovationen durch Deuten und Gestalten: Klöster im Mittelalter zwischen Jenseits und Welt — Klöster als Innovationslabore, Band 1: Regensburg: Schnell + Steiner, 2014

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Steckel, Sita: Deuten, Ordnen und Aneignen: Mechanismen der Innovation in der Erstellung hochmittelalterlicher Wissenskompendien
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https://doi.org/10.11588/diglit.31468#0245
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244 | Sita Steckel
ist der Hortus Deliciarum gleichzeitig stark seinem Nutzungskontext eines relativ
jungen und ausstattungsbedürftigen Kanonissenstifts angepasst: In seiner materiellen
Ausstattung und seiner kunstvollen Verknüpfung der visuellen und textuellen
Elemente war der Prachtcodex zur kontemplativen Lektüre der Kanonissinnen
gedacht. Er enthält neben dem »schulischen« Wissen aus neueren theologischen
Kompendien selbstverständlich auch Versatzstücke von Autoren wie Rupert von
Deutz oder Honorius Augustodunensis. ¹¹³ Für die Kanonissinnen war diese Gesamtschau
aktueller gelehrter Deutungsversuche ähnlich wie Lamberts Liber floridus
dann teils Bibliotheksersatz. Wie dieser folgt der Hortus deliciarum zudem
einer heilsgeschichtlichen Anordnung, die sich dem Zweck individueller meditativer
Lektüre und Heilsgewinnung zuordnen lässt. ¹¹⁴ Andere Wissenskompendien
für weibliche Religiosen, insbesondere das Speculum virginum aus der Mitte des
12. Jahrhunderts, das Mersch dem Kontext der Regularkanoniker von Springiersbach
zuordnet, zeigen dagegen eine ähnlich stark auf das Zusammenwirken von
Bild, Text und Musik ausgerichtete materielle Einrichtung. ¹¹⁵ Das Speculum virginum,
das sein Wissen ebenfalls in Form eines Lehrdialogs darbietet, kommt jedoch
ohne enzyklopädischen Anspruch, ohne Gesamtordnung und ohne den Einschluss
aktualisierten Schulwissens über Gott und die Welt aus. Es blieb viel stärker auf den
Erwerb individueller Tugenden fokussiert, der den spezifischen Bedarf weiblicher
Religiosen bildete.
Zur Vervollständigung des weiten Panoramas hochmittelalterlicher Wissenskompendien
könnte man eine ganze Reihe weiterer Exemplare diskutieren, die
auffallend häufig den Grundstock von Honorius’ Augustodunensis Elucidarium
weiterentwickeln und so ihre Wurzeln in der neu auf die Seelsorge ausgerichteten
Kirchenreform des 11. Jahrhunderts offenbaren. Als in Ansätzen enzyklopädisches
Wissenskompendium, das sowohl historisches, theologisches wie philosophischnaturkundliches
Wissen für höfische Kontexte aufbereitete, kann man etwa das
Pantheon des staufischen Hofkaplans Gottfried von Viterbo († um 1191) aus den
1180er Jahren erwähnen. ¹¹⁶ Weitere, teils erweiternde Übersetzungen des Elucida-
113 Vgl. Griffiths, Garden of Delights (wie Anm. 3), S. 64 –72.
114 Vgl. Meier, Enzyklopädischer Ordo (wie Anm. 17), S. 523 f.; Griffiths, Garden of Delights (wie
Anm. 3), S. 164 –193.
115 Vgl. zum Speculum virginum die Beiträge in Listen, Daughter (wie Anm. 39); Katharina Ulrike Mersch,
Soziale Dimensionen visueller Kommunikation in hoch- und spätmittelalterlichen Frauenkommunitäten.
Stifte, Chorfrauenstifte und Klöster im Vergleich (Nova Mediaevalia 10), Göttingen 2012, hier
S. 145 –169.
116 Vgl. knapp Sturlese, Die deutsche Philosophie (wie Anm. 3), S. 228 –244; Maria Elisabeth Dorninger,
Gottfried von Viterbo. Ein Autor in der Umgebung der frühen Staufer (Stuttgarter Arbeiten zur
Germanistik 345), Stuttgart 1997; Friederike Boockmann, Studien zum Pantheon des Gottfried von
Viterbo, Diss. masch. München 1992.
 
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