Pragmatische Visionäre? | 265
befriedigenden Antworten mehr. Dies zeigte sich am Erfolg, den häretische Gruppierungen
in jenen Regionen Europas hatten, in denen sich die größten Städtekonzentrationen
befanden.
Die etablierte Kirche tat sich schwer mit der Integration neuer urbaner Lebensformen.
⁵⁶ Zu sehr blieben große Teile von Klerus und Mönchtum traditionellen
Vorstellungen verhaftet, hatte sich ihr Leben in Pfarre, Stift oder Kloster im Gegensatz
zu jenem der Kaufleute, Handwerker und freien Scholaren doch weniger
stark verändert. So konnten die Mendikanten eine wichtige Rolle dabei spielen, der
Kirche Autorität und Überzeugungskraft zurückzugewinnen, indem die neuartigen
bürgerlichen Lebenswelten mit der Kirche versöhnt und »verchristlicht« wurden. ⁵⁷
Waren es im hohen Mittelalter die Ritter gewesen, die als milites Christi ihren Platz
in der Kirche gefunden hatten, so empfingen nun die nichtadligen Bürger den kirchlichen
Segen. ⁵⁸ Die Bettelmönche begleiteten und förderten diese Entwicklung. ⁵⁹
Da sie selbst zu großen Teilen aus der städtischen Mittelschicht stammten, erschien
ihnen diese Haltung vermutlich nicht als innovatives Programm, sondern als notwendige
und alltägliche Auseinandersetzung mit der Welt, aus der sie stammten und
die sie kannten. ⁶⁰ Die mendikantische Pastoraltheologie war so gesehen nichts anderes
als ein Spiegelbild der Ängste und Hoffnungen einer Gesellschaft im Wandel. ⁶¹
Salimbene setzte sich auf seine eigene Art mit dieser Gesellschaft auseinander. In
seiner Chronik verfolgte er nicht das Ziel, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten.
So entwarf er keine geschlossene Weltsicht, sondern beschrieb und bewertete
nur einzelne Personen und ihre Taten. Sein Wertesystem offenbarte dennoch ein
soziales Denken, wenn auch nur durch den Umweg über Begriffe und semantische
Felder. Andere Mendikanten wählten andere Wege, um über die Gesellschaft nach-
56 Zur Lebensform als »geschichtlich eingeübte[r] soziale[r] Verhaltensweise« vgl. Arno Borst, Lebensformen
im Mittelalter (Ullstein Taschenbuch 26513), 2. Aufl. Frankfurt am Main/Berlin 1999 (Erstausgabe
1973), S. 14 und 19.
57 Giulia Barone, L’ordine dei predicatori e la città. Teologia e politica nel pensiero e nell’azione dei predicatori,
in: Mélanges de l’école française de Rome. Moyen age – temps modernes 89/2, 1977, S. 609 – 618.
58 Von einer »urban spirituality« sprach Lester Little, Religious Poverty and the Profit Economy in Medieval
Europe, Ithaca 1978, S. 171.
59 Little, Religious Poverty (wie Anm. 58), S. 184 –217.
60 Zur Identifizierung der Franziskaner mit ihren Herkunftsstädten vgl. Robert Brentano, Do not say
that this is a man from Assisi, in: Beyond Florence. The Contours of Medieval and Modern Italy, hg. von
Paula Findlen/Michelle M. Fontaine/Duane J. Osheim, Stanford 2003, S. 72– 80. Zur Verflechtung
der Mendikanten mit ihrem städtischen Umfeld vgl. exemplarisch Jens Röhrkasten, The Mendicant
Houses of Medieval London, 1221–1539 (Vita regularis. Abhandlungen 21), Münster 2004.
61 Zur widersprüchlichen Wahrnehmung der städtischen Lebensweise der Mendikanten vgl. Sickert, Klosterbrüder
(wie Anm. 7), S. 206 –210. Zum Widerstreit von »istanze vecchie e nuove« in der Weltsicht
Bertholds von Regensburg vgl. Concetta Giliberto, La rappresentazione della società tedesca del XIII
secolo nei sermoni in volgare di Bertoldo da Ratisbona, in: I Francescani e la politica. Atti del Convegno
internazionale di studio Palermo 3 –7 dicembre 2002, 2 Bde., hg. von Alessandro Musco (Franciscana
13), Palermo 2007, Bd. 1, S. 523 –542, hier S. 542.
befriedigenden Antworten mehr. Dies zeigte sich am Erfolg, den häretische Gruppierungen
in jenen Regionen Europas hatten, in denen sich die größten Städtekonzentrationen
befanden.
Die etablierte Kirche tat sich schwer mit der Integration neuer urbaner Lebensformen.
⁵⁶ Zu sehr blieben große Teile von Klerus und Mönchtum traditionellen
Vorstellungen verhaftet, hatte sich ihr Leben in Pfarre, Stift oder Kloster im Gegensatz
zu jenem der Kaufleute, Handwerker und freien Scholaren doch weniger
stark verändert. So konnten die Mendikanten eine wichtige Rolle dabei spielen, der
Kirche Autorität und Überzeugungskraft zurückzugewinnen, indem die neuartigen
bürgerlichen Lebenswelten mit der Kirche versöhnt und »verchristlicht« wurden. ⁵⁷
Waren es im hohen Mittelalter die Ritter gewesen, die als milites Christi ihren Platz
in der Kirche gefunden hatten, so empfingen nun die nichtadligen Bürger den kirchlichen
Segen. ⁵⁸ Die Bettelmönche begleiteten und förderten diese Entwicklung. ⁵⁹
Da sie selbst zu großen Teilen aus der städtischen Mittelschicht stammten, erschien
ihnen diese Haltung vermutlich nicht als innovatives Programm, sondern als notwendige
und alltägliche Auseinandersetzung mit der Welt, aus der sie stammten und
die sie kannten. ⁶⁰ Die mendikantische Pastoraltheologie war so gesehen nichts anderes
als ein Spiegelbild der Ängste und Hoffnungen einer Gesellschaft im Wandel. ⁶¹
Salimbene setzte sich auf seine eigene Art mit dieser Gesellschaft auseinander. In
seiner Chronik verfolgte er nicht das Ziel, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten.
So entwarf er keine geschlossene Weltsicht, sondern beschrieb und bewertete
nur einzelne Personen und ihre Taten. Sein Wertesystem offenbarte dennoch ein
soziales Denken, wenn auch nur durch den Umweg über Begriffe und semantische
Felder. Andere Mendikanten wählten andere Wege, um über die Gesellschaft nach-
56 Zur Lebensform als »geschichtlich eingeübte[r] soziale[r] Verhaltensweise« vgl. Arno Borst, Lebensformen
im Mittelalter (Ullstein Taschenbuch 26513), 2. Aufl. Frankfurt am Main/Berlin 1999 (Erstausgabe
1973), S. 14 und 19.
57 Giulia Barone, L’ordine dei predicatori e la città. Teologia e politica nel pensiero e nell’azione dei predicatori,
in: Mélanges de l’école française de Rome. Moyen age – temps modernes 89/2, 1977, S. 609 – 618.
58 Von einer »urban spirituality« sprach Lester Little, Religious Poverty and the Profit Economy in Medieval
Europe, Ithaca 1978, S. 171.
59 Little, Religious Poverty (wie Anm. 58), S. 184 –217.
60 Zur Identifizierung der Franziskaner mit ihren Herkunftsstädten vgl. Robert Brentano, Do not say
that this is a man from Assisi, in: Beyond Florence. The Contours of Medieval and Modern Italy, hg. von
Paula Findlen/Michelle M. Fontaine/Duane J. Osheim, Stanford 2003, S. 72– 80. Zur Verflechtung
der Mendikanten mit ihrem städtischen Umfeld vgl. exemplarisch Jens Röhrkasten, The Mendicant
Houses of Medieval London, 1221–1539 (Vita regularis. Abhandlungen 21), Münster 2004.
61 Zur widersprüchlichen Wahrnehmung der städtischen Lebensweise der Mendikanten vgl. Sickert, Klosterbrüder
(wie Anm. 7), S. 206 –210. Zum Widerstreit von »istanze vecchie e nuove« in der Weltsicht
Bertholds von Regensburg vgl. Concetta Giliberto, La rappresentazione della società tedesca del XIII
secolo nei sermoni in volgare di Bertoldo da Ratisbona, in: I Francescani e la politica. Atti del Convegno
internazionale di studio Palermo 3 –7 dicembre 2002, 2 Bde., hg. von Alessandro Musco (Franciscana
13), Palermo 2007, Bd. 1, S. 523 –542, hier S. 542.