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Innovationen durch Deuten und Gestalten: Klöster im Mittelalter zwischen Jenseits und Welt — Klöster als Innovationslabore, Band 1: Regensburg: Schnell + Steiner, 2014

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Ertl, Thomas: Pragmatische Visionäre? Die mendikantische Sicht der Welt im 13. Jahrhundert
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https://doi.org/10.11588/diglit.31468#0271
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270 | Thomas Ertl
den Bettelmönchen. Ja, zahlreiche Errungenschaften des modernen Europa scheinen
aus dieser Perspektive ihren Ursprung in den monastischen und mendikantischen
Gemeinschaften gehabt zu haben, die als innovative Laboratorien sozialen
Wandels gedeutet werden. ⁸²
In einer konträren Interpretation stellen die Mendikanten nur eine Reaktion
auf die veränderten Lebensumstände des 13. Jahrhunderts dar, ohne selbst eine intellektuelle
oder soziale Vorreiterrolle zu übernehmen. Von ihnen seien keine innovativen
Impulse ausgegangen, sie hätten sich vielmehr eingefügt in die sozialen
und ökonomischen Umwälzungen der Zeit, diese begleitet und ihnen ihren Segen
gegeben. Eine solche Interpretation liegt auch dann nahe, wenn die Geschichte des
Franziskanerordens als eine Geschichte des Niedergangs und des Verrats an den
ursprünglichen Idealen gedeutet wird. ⁸³
Gründe für diese widersprüchlichen Einschätzungen sind zum einen die Diversität
und Entwicklung der Bettelorden selbst. Über die Frage, ob die Franziskaner
am Ende des 13. Jahrhunderts die Botschaft des Franziskus authentisch lebten und
tradierten, wird bekanntlich lebhaft gestritten. Entsprechend schwierig ist es, von
einem einheitlichen mendikantischen Vermächtnis zu sprechen. Noch bedeutsamer
scheint mir jedoch der persönliche Standpunkt des jeweiligen Historikers und sein
Geschichtsbild zu sein. Abhängig von der individuell gewichteten Bedeutung von
Religion in der Gesellschaft oder der Bedeutung von großen Reformern in der Geschichte
variiert die Einschätzung der Bettelmönche. Während manche Historiker
eine Mendikantisierung der Christenheit und durch diese die Verhinderung einer
frühzeitigen »Reformation« und Kirchenspaltung im späten Mittelalter erkennen
wollen, ist anderen das Mendikantentum eine weitere Erscheinungsform einer sich
ständig erneuernden Kirche, die transzendente Bedürfnisse auf immer neue und
zeitgemäße Weise zu befriedigen sucht, ohne jedoch den Lauf der Welt nachhaltig
zu gestalten.
Unabhängig von persönlichen Tendenzen könnte man sich als kleinsten gemeinsamen
Nenner vielleicht darauf verständigen, dass innerhalb der Bettelorden des
13. Jahrhunderts auf zeitgemäßem Niveau und in damals moderner Terminologie
und Wissenschaftlichkeit über Gesellschaft und ihre Probleme nachgedacht wurde.
Die Bettelorden sind in dieser Epoche ein attraktives Sammelbecken für gelehrte
und neugierige Geister, die sich über Gott und die Welt den Kopf zerbrachen. Sie
82 Innovation in Klöstern und Orden des Hohen Mittelalters. Aspekte und Pragmatik eines Begriffs, hg.
von Mirko Breitenstein/Stefan Burkhardt/Julia Dücker (Vita Regularis. Abhandlungen 48), Berlin
2012.
83 Helmut Feld, Die Totengräber des heiligen Franziskus von Assisi, in: Archiv für Kulturgeschichte 68,
1986, S. 319 –350.
 
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