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Innovationen durch Deuten und Gestalten: Klöster im Mittelalter zwischen Jenseits und Welt — Klöster als Innovationslabore, Band 1: Regensburg: Schnell + Steiner, 2014

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Rexroth, Frank: Monastischer und scholastischer Habitus: Beobachtungen zum Verhältnis zwischen zwei Lebensformen des 12. Jahrhunderts
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https://doi.org/10.11588/diglit.31468#0319
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318 | Frank Rexroth
des Thomas von Aquin entnommen, die Wilhelm von Tocco um 1320 verfasste und
die bereits stark auf die Kanonisation des doctor angelicus hin geschrieben ist. Sie
soll dessen Fähigkeit zur Konzentration und Meditation demonstrieren, die Befähigung,
seinen Geist so sehr auf die philosophisch-theologische Reflexion zu konzentrieren,
dass er sich gänzlich aus seiner physischen Umgebung zu lösen vermag.
Die Episode berichtet davon, wie Thomas eines Tages gemeinsam mit seinem
Prior an den Tisch König Ludwigs des Heiligen geladen war. Thomas entschuldigte
sich zunächst demütig mit der Begründung, er sei zu sehr mit dem Diktieren der
Summa Theologiae beschäftigt. Doch König und Prior drängten ihn, und so verließ
Thomas seine Studien und setzte sich zu den anderen an die königliche Tafel. Dabei
hielt er zunächst schweigend an derjenigen imaginatio fest, die er noch in seiner
Zelle gefasst hatte. Doch plötzlich platzte der Aquinate heraus, schlug auf den Tisch
und rief: »Jetzt habe ich den Schluss gegen die manichäische Irrlehre!« Erst als der
Prior ihn kräftig an seiner cappa zog und ihn ermahnte, dass er am Tisch des Königs
von Frankreich sitze, kam er zu sich (quasi ad seipsum rediens), verneigte sich vor
Ludwig und bat um Verzeihung. Der König wunderte sich darüber sehr, meinte er
doch, dass der Magister angesichts seiner adligen Herkunft wissen müsse, was es
bedeute, beim König zu Gast zu sein und sich darüber zu erfreuen. Stattdessen, so
sah Ludwig, blieb die Konzentration des Gelehrten stärker. Er war besorgt darum,
dass die Betrachtung, die den Verstand des Aquinaten so sehr abgelenkt hatte, nicht
verloren gehen würde. Also rief er seinen Schreiber und bestand darauf, dass dieser
in seinem königlichen Beisein seine Gedanken niederschreiben ließ. ²
Dies ist nicht das einzige Beispiel der Vita für die Befähigung des Aquinaten,
sich – modern gesprochen – zu konzentrieren und seine Gedanken völlig rein zu
2 Wilhelm von Tocco, Vita S. Thomae, hg. von Johannes Bolland/Godefridus Henschenius/Daniel von
Papenbroeck in: Acta Sanctorum Martii, Bd. 1, Antwerpen 1668, Sp. 658–685, hier cap. 44, Sp. 673Bf. De
cuius miranda et inaudita distractione mentis et contemplatione dicitur, quod cum semel S. Lodouicus Rex
Franciae ipsum ad mensam suam inuitasset, et ipse se humiliter excusasset e propter opus Summæ in Theologia,
quod dictaret tunc temporis. Obtinente autem mandato Regis et Prioris Parisiensis, vt Magistrum
humilem inclinaret, sublimem contemplatione, ad expressum mandatum Regis et Prioris, [imo et mensa
Regis,] dimisso suo studio cum illa imaginatione, quam manens in cella conceperat, accessit ad Regem:
iuxta quem existens in mensa, subito veritate fidei inspirata, mensam percussit et dixit: Modo conclusum
est contra haeresim Manichaei. Quem Prior tetigit, et dixit: Aduertatis Magister, quia nunc estis in mensa
Regis Franciae, et traxit eum per cappam fortiter, vt abstractum a sensibus excitaret. Qui quasi ad seipsum
rediens, inclinans se ad sanctum Regem, rogauit, vt ei parceret, qui distractus in mensa Regia sic fuisset. De
quo Rex plurimum admiratus est, et aedificatus a Magistro, quod, cum esset nobilis, et posset ipsum tanti
Regis inuitatio delectare, et a contemplatione distrahere, praebuit in eo mentis abstractio, vt eleuatum in
spiritu, sensus eum non deprimeret in conuictu. Fuit autem sanctus Rex prouidus, vt meditatio illa, quae
potuit mentem Doctoris distrahere, contingeret non perire. Vnde vocato Scriptore suo, voluit quod coram
eo redigeret in scripto, quod Doctor conseruauerat in secreto; quamuis apud Doctoris memoriam nil penitus
deperiret, quod influebat diuinus Spiritus, vt seruaret. Zur Geistesabwesenheit des Aquinaten auch
Otto Hermann Pesch, Thomas von Aquino (1224–1274)/Thomismus/Neuthomismus, in: Theologische
Realenzyklopädie, Bd. 33, Berlin/New York 2002, S. 433–474, hier S. 436.
 
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