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Innovationen durch Deuten und Gestalten: Klöster im Mittelalter zwischen Jenseits und Welt — Klöster als Innovationslabore, Band 1: Regensburg: Schnell + Steiner, 2014

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Rexroth, Frank: Monastischer und scholastischer Habitus: Beobachtungen zum Verhältnis zwischen zwei Lebensformen des 12. Jahrhunderts
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https://doi.org/10.11588/diglit.31468#0320
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Monastischer und scholastischer Habitus | 319
halten von den Sinneseindrücken, die von seiner physischen Umwelt auf ihn eingehen
könnten. Seine distractio mentis, seine Geistesabwesenheit, erscheint hier wie
an anderen Stellen in Wilhelms Werk als eine charismatische Gabe, nicht als ein
Mangel an Realitätssinn. Sie wird mit Worten beschrieben, die eindeutig der monastischen
Sphäre zuzuschreiben sind: von der contemplatio, der imaginatio und der
meditatio ist die Rede, ebenfalls von der Inspiration durch die Wahrheit des Glaubens,
von der mentis abstractio, die ihn im Geist erhebt (vt eleuatum in spiritu).
Der plötzliche Höhepunkt des Geschehens aber, der Augenblick, in dem der
hartnäckige Schweiger plötzlich mit der Faust auf den Tisch haut und laut spricht,
wird durch einen Begriff auf einer gänzlich anderen geistigen Sphäre markiert: Modo
conclusum est contra haeresim Manichaei! Mit ihm wird Thomas als Scholastiker
ausgewiesen, da hier auf die dialektische Technik der Wahrheitssuche im Rahmen
der quaestio angespielt wird. Leser bzw. Hörer der Vita sind auf diese Typisierung
des Aquinaten als Scholastiker durch frühere Passagen vorbereitet. Diese bieten die
Verständnisgrundlage für die Anekdote: Thomas habe sich bewusst auf das Schweigen
verlegt, um seine ungeheure Begabung auf dem Gebiet der Scholastik zu pflegen.
Seine frühen Erfolge im Lernen (quidquid a Magistro addisceret) hatten ihm
zwar bei seinen Mitschülern den Spitznamen »der stille Ochse« eingetragen, zeigten
aber zugleich seine virtus intelligentiae: Er schien wie geboren zu sein für den actus
scholasticus, für die lectio und die repetitio, für das Ergänzen dessen, was sein
Lehrer nicht gesagt hatte, für das Respondieren und das Disputieren über knifflige
Quaestionen. »Bruder Thomas«, habe sein Lehrer Albertus Magnus nach einer Probe
seiner Kunst zu ihm gesagt, »du scheinst keiner zu sein, der einfach respondiert,
sondern einer, der determiniert« – was bedeutete, dass sein Verstand reif war, über
den Ausgang der Quaestionen zu entscheiden. ³
Es wäre reizvoll, ausgehend von dieser Anekdote zweierlei Genealogien der
Geistesabwesenheit zu verfolgen und auf diese Weise monastischen und scholastischen
Habitus in Verbindung miteinander zu bringen: Zur einen Seite hin die
monastischen Virtuosen der Kontemplation wie Richard von St. Viktor ⁴ oder Bernhard
von Clairvaux, der nach dem Bericht des Alanus von Auxerre einen Tag lang
am Genfer See entlang ritt, ohne die ihn umgebende Landschaft wahrzunehmen; ⁵
3 Wilhelm von Tocco, Vita S. Thomae (wie Anm. 2), cap. 13, Sp. 663B. […] praedictus Magister ei dixit:
Frater Thoma, tu non videris tenere locum respondentis, sed determinantis.
4 Rudolf Goy, Die handschriftliche Überlieferung der Werke Richards von St. Viktor im Mittelalter (Bibliotheca
Victorina 18), Turnhout 2005, S. 11.
5 Alanus von Auxerre, Vita secunda sancti Bernardi, in: Patrologia Latina, hg. von Jacques-Paul Migne, Bd.
185, Paris 1855, Sp. 469 –522, hier Sp. 496: Juxta lacum etiam Lausanensem totius diei itinere pergens,
penitus non attendit, aut se videre non vidit. Cum enim vespere facto de eodem lacu socii colloquerentur,
interrogabat eos, ubi lacus ille esset, et mirati sunt universi. Vgl. Peter von Moos, ‚Attentio est quaedam
sollicitudo‘. Die religiöse, ethische und politische Dimension der Aufmerksamkeit im Mittelalter, in: Auf-
 
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