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Innovationen durch Deuten und Gestalten: Klöster im Mittelalter zwischen Jenseits und Welt — Klöster als Innovationslabore, Band 1: Regensburg: Schnell + Steiner, 2014

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Rexroth, Frank: Monastischer und scholastischer Habitus: Beobachtungen zum Verhältnis zwischen zwei Lebensformen des 12. Jahrhunderts
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https://doi.org/10.11588/diglit.31468#0321
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320 | Frank Rexroth
auf der anderen Seite die Gelehrten, denen auf der Suche nach der philosophischen
Wahrheit der Kontakt zu ihrer Außenwelt abhandenkommt. Paradigmatisch ist hier
der Fall des stürzenden Thales von Milet, der sich von einer thrakischen Magd
verspotten lassen muss: Er wolle den Himmel erforschen und kenne offenbar den
Boden zu seinen Füßen nicht richtig. ⁶ Auch Karneades von Kyrene gehört dieser
Tradition an. Jacobus de Cessolis erinnert in seinem Schachzabelbuch an seine Versunkenheit:
Verhungert wäre er über seinen philosophischen Gedanken, wenn er
nicht ab und zu von seiner Frau mit einem Löffel gefüttert worden wäre. ⁷ Später
empfahl Petrarca die »Einsamkeit mitten unter den Menschen«, ⁸ und dieser Nebeneffekt
der wissenschaftlichen Reflexion steht uns heute deutlich vor Augen, wenn
wir uns über den zerstreuten Professor lustig machen. Bekannt ist der Kalauer vom
sterbenden Kunsthistoriker, dem man das Kreuz Christi vorhält und der mit seinem
letzten Atemzug zum Pfarrer sagt: »oberrheinisch, spätes 15. Jahrhundert«. ⁹
Die Anekdote aus dem Leben des heiligen Thomas verweist also zunächst darauf,
dass die monastische Existenz nicht nur einen Rahmen für die intellektuelle
Kontemplation bieten kann, sondern auch für diejenige theologische Wahrheitssuche,
die ganz unkontemplativ im Verfahren der scholastischen quaestio ihren Weg
sucht und auf der genuin sozialen, auf Intersubjektivität beruhenden Technik der
Rede und Gegenrede beruht. Diese Technik bleibt auch trotz aller Erfordernisse der
Lektüre und der Meditation über Texte stets rückgebunden an schulische Handlungsformen
und an die Rollen, die sich im Inneren der scholae ausgeprägt hatten:
Magister und Schüler, Respondenten und Determinanten.
Nun ist allgemein bekannt, dass Mönche an der scholastischen Ära der okzidentalen
Wissenschaft in ganz besonderer Weise ihren Anteil hatten – allein ein Blick
in das revidierte »Repertorium edierter Texte des Mittelalters aus dem Bereich der
Philosophie und angrenzender Gebiete«, das Rolf Schönberger und seine Kolleginnen
jüngst herausgegeben haben, verdeutlicht, wie hoch der Anteil monastischer
merksamkeiten, hg. von Aleida Assmann/Jan Assmann (Archäologie der literarischen Kommunikation
7), München 2001, S. 91–127.
6 Platon, Theaitetos, in: Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch, hg. von Gunther Eigler, Bd. 6:
Theaitetos. Der Sophist. Der Staatsmann, 2. Aufl. Darmstadt 1990, 174a, S. 101. Zur Deutung der Geschichte
Hans Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie (Suhrkamp-Taschenbuch
Wissenschaft 652), Frankfurt am Main 1987, S. 13 –22.
7 Gadi Algazi, ‚Sich selbst vergessen‘ im späten Mittelalter. Denkfiguren und soziale Konfigurationen, in:
Memoria als Kultur, hg. von Otto Gerhard Oexle (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts 121),
Göttingen 1995, S. 387– 427.
8 Gadi Algazi, Gelehrte Zerstreutheit und gelernte Vergesslichkeit, in: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen
in der Vormoderne, hg. von Peter von Moos (Norm und Struktur 15), Köln 2001, S. 235 –250.
9 Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewusstseins und der philologischen
Erkenntnis, Frankfurt am Main 1990, S. 219.
 
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