Innovation aus Verantwortung | 341
nerseits und den individuellen seelischen Bedürfnissen jedes Einzelnen im Kloster
andererseits; zum anderen durch die Spannung zwischen der Transzendenz göttlicher
Vollkommenheit einerseits und andererseits dem noch irdischen und damit als
defizient verstandenen Status von Einzelnem und Gemeinschaft. Beide Spannungsfelder
markierten die normativen Eckpfeiler des religiösen Lebens im Kloster – Individuum
und Gemeinschaft, Diesseits und Jenseits – und forderten, weil sie nicht
auflösbar waren, zugleich heraus, in einer ausgeglichenen Balance gegenseitiger Verantwortlichkeit
gehalten zu werden.
Dies war eine gewaltige Aufgabe, um die pragmatisch fortwährend gerungen
werden musste. Denn bei allem in tiefem Glauben begründeten Idealismus, bei
besten Techniken der Umformung des zur conversio bereiten Novizen zum geschulten
Mönch oder bei höchstmöglicher Abschottung des klösterlichen Innen
gegenüber den Gefährdungen von Außen – die Balance war stets störanfällig. Ein
Kloster stellte auch im Mittelalter keine gottgegebene Insel der Stabilität dar, vielmehr
genügten oftmals geringfügige kontingente Ereignisse, um jene Spannungsfelder
implodieren zu lassen, sodass aus der klösterlichen Gemeinschaft ein – wie
es drastisch hieß ⁴ – »Ort der Söhne des Teufels« werden konnte und Mönche zu
»Rebellen gegen Tugend und Wahrheit« mutierten. – In dem Zwang aber, jene Balance
zwischen Individuum und Gemeinschaft, Diesseits und Jenseits zu errichten,
sie auf Dauer zu stellen, eventuell auch zu retten oder gar zu erneuern, wurden eben
jene Anstrengungen unternommen, die Leistungen von höchster innovatorischer
Qualität hervorbrachten.
Dies scheint immer schon gegolten zu haben, denn seit jeher – beginnend mit
Pachomius im 4. Jahrhundert – war klösterliche vita communis mittels einer Regel
geordnet, die das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft im oben umrissenen
Sinne festschrieb. Die bekannten Aufbrüche in der Christenheit während
des 11. und 12. Jahrhunderts bewirkten jedoch eine stärkere Verinnerlichung der
Frömmigkeit und eine Individualisierung des Religiösen bei gleichzeitiger institutioneller
Verdichtung der Gemeinschaftsformen. Es kam in jener Epoche zu
einer weitgreifenden Neuorientierung dessen, wie Klosterleben sich abzuspielen
habe – und es begann eine Phase des Experiments, an dessen vorderster Front die
neuen Formationen der Zisterzienser, der Regularkanoniker, der Prämonstratenser,
Grandmontenser, Fontevraudenser, Gilbertiner und andere mehr standen. Im
Rückgriff auf die Urkirche verstanden sie sich jeweils als eine Gesinnungsgemein-
4 Germain Morin, Rainaud l’ermite et Ives de Chartres: Un épisode de la crise du cénobitisme au XI ᵉ –XII ᵉ
siècle, in: Revue Bénédictine 40, 1928, S. 99 –115, hier S. 110; Meditationes piissimae de cognitione humanae
conditiones, in: Patrologia Latina, hg. von Jacques-Paul Migne, Bd. 184, Paris 1854, Sp. 485 –508,
hier Sp. 506.
nerseits und den individuellen seelischen Bedürfnissen jedes Einzelnen im Kloster
andererseits; zum anderen durch die Spannung zwischen der Transzendenz göttlicher
Vollkommenheit einerseits und andererseits dem noch irdischen und damit als
defizient verstandenen Status von Einzelnem und Gemeinschaft. Beide Spannungsfelder
markierten die normativen Eckpfeiler des religiösen Lebens im Kloster – Individuum
und Gemeinschaft, Diesseits und Jenseits – und forderten, weil sie nicht
auflösbar waren, zugleich heraus, in einer ausgeglichenen Balance gegenseitiger Verantwortlichkeit
gehalten zu werden.
Dies war eine gewaltige Aufgabe, um die pragmatisch fortwährend gerungen
werden musste. Denn bei allem in tiefem Glauben begründeten Idealismus, bei
besten Techniken der Umformung des zur conversio bereiten Novizen zum geschulten
Mönch oder bei höchstmöglicher Abschottung des klösterlichen Innen
gegenüber den Gefährdungen von Außen – die Balance war stets störanfällig. Ein
Kloster stellte auch im Mittelalter keine gottgegebene Insel der Stabilität dar, vielmehr
genügten oftmals geringfügige kontingente Ereignisse, um jene Spannungsfelder
implodieren zu lassen, sodass aus der klösterlichen Gemeinschaft ein – wie
es drastisch hieß ⁴ – »Ort der Söhne des Teufels« werden konnte und Mönche zu
»Rebellen gegen Tugend und Wahrheit« mutierten. – In dem Zwang aber, jene Balance
zwischen Individuum und Gemeinschaft, Diesseits und Jenseits zu errichten,
sie auf Dauer zu stellen, eventuell auch zu retten oder gar zu erneuern, wurden eben
jene Anstrengungen unternommen, die Leistungen von höchster innovatorischer
Qualität hervorbrachten.
Dies scheint immer schon gegolten zu haben, denn seit jeher – beginnend mit
Pachomius im 4. Jahrhundert – war klösterliche vita communis mittels einer Regel
geordnet, die das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft im oben umrissenen
Sinne festschrieb. Die bekannten Aufbrüche in der Christenheit während
des 11. und 12. Jahrhunderts bewirkten jedoch eine stärkere Verinnerlichung der
Frömmigkeit und eine Individualisierung des Religiösen bei gleichzeitiger institutioneller
Verdichtung der Gemeinschaftsformen. Es kam in jener Epoche zu
einer weitgreifenden Neuorientierung dessen, wie Klosterleben sich abzuspielen
habe – und es begann eine Phase des Experiments, an dessen vorderster Front die
neuen Formationen der Zisterzienser, der Regularkanoniker, der Prämonstratenser,
Grandmontenser, Fontevraudenser, Gilbertiner und andere mehr standen. Im
Rückgriff auf die Urkirche verstanden sie sich jeweils als eine Gesinnungsgemein-
4 Germain Morin, Rainaud l’ermite et Ives de Chartres: Un épisode de la crise du cénobitisme au XI ᵉ –XII ᵉ
siècle, in: Revue Bénédictine 40, 1928, S. 99 –115, hier S. 110; Meditationes piissimae de cognitione humanae
conditiones, in: Patrologia Latina, hg. von Jacques-Paul Migne, Bd. 184, Paris 1854, Sp. 485 –508,
hier Sp. 506.