Innovation aus Verantwortung | 351
nächst als Kronzeuge ihr Generalmagister Humbert de Romanis. Dieser führte in
seinem Statutenkommentar zu dem Satzteil »weil unser Orden von Anfang an speziell
(specialiter) wegen der Predigt und des Seelenheils einrichtet wurde« aus, dass
dementsprechend die erste Aufgabe (propositum) des Ordens die Predigt sei, welche
dann konsequenterweise auch dem Seelenheil – der salus animarum – aller Menschen
dienlich sei. Sein Orden sei also ganz im Unterschied zu allen anderen nicht
nur dem Nutzen der eigenen Mitglieder, sondern dem aller Menschen verpflichtet –
und eben dies zeichne ihn auch vor den anderen aus (excellit alios ordines). ²⁴
Um dieses vorgeblich so einzigartig herausragende propositum erfüllen zu können,
haben die Dominikaner in der Tat etwas sehr Fortschrittliches eingeführt, das
ich schon an anderer Stelle mit »Systemrationalität« bezeichnet habe. Darunter war
die funktionale Ausrichtung absolut aller Elemente, untereinander ebenso wie in
ihrer Gesamtheit, auf ein einziges Ziel hin zu verstehen – eine Ausrichtung, die sich
gleichermaßen auf lebenspraktischer wie auf ideeller Ebene widerspruchsfrei vollzog.
Das daraus entstehende Geflecht von Beziehungen stellte ein kohärentes und
in sich geschlossenes System dar, das in dieser stringenten Weise zuvor noch von
keinem Orden errichtet worden war und das die Organisation der Dominikaner der
jedes anderen Ordens überlegen machte.
Da dieses Ziel nach ihren eigenen Worten und bekanntlich gemäß ihres offiziellen
Namens, nämlich »Orden der (man möchte hinzufügen: professionellen)
Prediger«, darin bestand, durch bestmögliche Predigttätigkeit Seelen zum Heil zu
führen, hatten die Dominikaner also bei der Konstruktion ihrer Organisation tatsächlich
sämtliche Elemente des Ordens planvoll darauf abgestimmt: In erster Linie
bedurfte es vor allem ganz bestimmter personeller Ressourcen. Predigen bedeutete
in den Augen schon der frühen Dominikaner eine besonders verantwortungsvolle
Aufgabe. Verlangt waren also bestens ausgebildete und eingeübte, aber zugleich
auch selbstbewusste und mit einem hohen Maß an Eigenverantwortung ausgestattete,
mündige Persönlichkeiten. Pastorale Verantwortlichkeit setzt Verantwortung
des Seelsorgers sich selbst gegenüber voraus. Gefordert waren also vorrangig Menschen
und dann erst solche abstrakten Normen, die diesen Menschen dienlich sein
konnten. Deshalb bündelten sich vorrangig alle dominikanischen Bemühungen um
eine geeignete Organisation gleichsam in der systemischen Position der individuellen
Mitglieder.
Zwei Elemente wurden eingeführt, um diese Position jeweils zu stärken: der
Dispens sowie die Trennung von Schuld und Strafe. Der Dispens – eigentlich ein
altes Rechtsinstitut der Kirche – hat bei den Dominikanern einen ganz innovativen
24 Humbertus de Romanis, Expositio super constitutiones fratrum praedicatorum, in: Humberti de Romanis
Opera de vita regulari, Bd. 2, hg. von Joachim Joseph Berthier, Rom 1889, S. 1–178, hier S. 38 f.
nächst als Kronzeuge ihr Generalmagister Humbert de Romanis. Dieser führte in
seinem Statutenkommentar zu dem Satzteil »weil unser Orden von Anfang an speziell
(specialiter) wegen der Predigt und des Seelenheils einrichtet wurde« aus, dass
dementsprechend die erste Aufgabe (propositum) des Ordens die Predigt sei, welche
dann konsequenterweise auch dem Seelenheil – der salus animarum – aller Menschen
dienlich sei. Sein Orden sei also ganz im Unterschied zu allen anderen nicht
nur dem Nutzen der eigenen Mitglieder, sondern dem aller Menschen verpflichtet –
und eben dies zeichne ihn auch vor den anderen aus (excellit alios ordines). ²⁴
Um dieses vorgeblich so einzigartig herausragende propositum erfüllen zu können,
haben die Dominikaner in der Tat etwas sehr Fortschrittliches eingeführt, das
ich schon an anderer Stelle mit »Systemrationalität« bezeichnet habe. Darunter war
die funktionale Ausrichtung absolut aller Elemente, untereinander ebenso wie in
ihrer Gesamtheit, auf ein einziges Ziel hin zu verstehen – eine Ausrichtung, die sich
gleichermaßen auf lebenspraktischer wie auf ideeller Ebene widerspruchsfrei vollzog.
Das daraus entstehende Geflecht von Beziehungen stellte ein kohärentes und
in sich geschlossenes System dar, das in dieser stringenten Weise zuvor noch von
keinem Orden errichtet worden war und das die Organisation der Dominikaner der
jedes anderen Ordens überlegen machte.
Da dieses Ziel nach ihren eigenen Worten und bekanntlich gemäß ihres offiziellen
Namens, nämlich »Orden der (man möchte hinzufügen: professionellen)
Prediger«, darin bestand, durch bestmögliche Predigttätigkeit Seelen zum Heil zu
führen, hatten die Dominikaner also bei der Konstruktion ihrer Organisation tatsächlich
sämtliche Elemente des Ordens planvoll darauf abgestimmt: In erster Linie
bedurfte es vor allem ganz bestimmter personeller Ressourcen. Predigen bedeutete
in den Augen schon der frühen Dominikaner eine besonders verantwortungsvolle
Aufgabe. Verlangt waren also bestens ausgebildete und eingeübte, aber zugleich
auch selbstbewusste und mit einem hohen Maß an Eigenverantwortung ausgestattete,
mündige Persönlichkeiten. Pastorale Verantwortlichkeit setzt Verantwortung
des Seelsorgers sich selbst gegenüber voraus. Gefordert waren also vorrangig Menschen
und dann erst solche abstrakten Normen, die diesen Menschen dienlich sein
konnten. Deshalb bündelten sich vorrangig alle dominikanischen Bemühungen um
eine geeignete Organisation gleichsam in der systemischen Position der individuellen
Mitglieder.
Zwei Elemente wurden eingeführt, um diese Position jeweils zu stärken: der
Dispens sowie die Trennung von Schuld und Strafe. Der Dispens – eigentlich ein
altes Rechtsinstitut der Kirche – hat bei den Dominikanern einen ganz innovativen
24 Humbertus de Romanis, Expositio super constitutiones fratrum praedicatorum, in: Humberti de Romanis
Opera de vita regulari, Bd. 2, hg. von Joachim Joseph Berthier, Rom 1889, S. 1–178, hier S. 38 f.