Deuten und Gestalten in mittelalterlichen Klöstern als Innovation | 359
Eine solch innovative Figurierung des klösterlichen Lebens führte zu einer
Neubestimmung der Wechselwirkungen von Individualität und Gemeinschaft, von
Transzendenz und Immanenz, von Normativität und Sinnstiftung, von (Eigen-)
Verantwortlichkeit und Führungsverpflichtungen, von Pragmatik des Lebens und
Idealen spiritueller Ziele. Die Grundsätzlichkeit, mit der hier aus klösterlicher Sicht
die konstitutiven Elemente von Mensch und Welt aufgegriffen worden waren, führte
rasch zur Überschreitung des Rahmens nur interner Diskurse und ließ Modelle
entwerfen, welche Geltung auch für das kirchliche und laikale Umfeld beanspruchten.
Klösterliche Gemeinschaften prägten somit in der Spanne vom 11. zum 13. Jahrhundert
die europäischen Vorstellungen von Gemeinschaftsbildung und Individualisierung
wesentlich mit. Sie lehrten Europa die Rationalität der Planung, der
Normsetzung, der formell geregelten Verfahrensabläufe, des Einsatzes pragmatischer
Schriftlichkeit, des Umgangs mit Eigentum und Besitzlosigkeit, der Arbeitsteilung,
der Güterzuweisung, der ökonomischen Betriebseffizienz. Sie erprobten
bei sich erfolgreich die rationale Gestaltung gesellschaftlicher Systeme und eröffneten
dadurch der europäischen Gesellschaft den Weg zu neuen Konstruktionen von
Staatlichkeit. Sie testeten die Grenzen der rationalen Erkenntnis durch die Technik
der scholastischen Dialektik aus und sprengten sie auf durch die individuellen Erfahrungen
der Mystik. Sie lehrten den Menschen eine verinnerlichte Ethik der Lebensführung
und vermittelten ihnen damit ein entscheidendes Orientierungswissen
im Umgang mit sich selbst und den Anderen; sie deuteten ihnen programmatisch
die Natur, das Leben und das Jenseits.« ⁵
Mittlerweile entfaltete Gert Melville solche Anfangsideen in seinem großen Buch
zur Welt der mittelalterlichen Klöster. ⁶ Die Gestaltung des Lebens, die Modelle zur
Einfügung des Individuums in die Gemeinschaft sowie die Entwürfe zur Deutung
von Welt, Natur und Heilsgeschichte – im Sinne fluider Ordnungskonfigurationen
verflochten ⁷ – lassen die innovative Kraft der hochmittelalterlichen vita religiosa
hervortreten. Zeitgenossen wie Joachim von Fiore († 1202/1205) oder Bonaventura
(† 1274) fingen die Dynamik ihrer eigenen Zeit in neuen Epochenmodellen ein. Sie
verweisen bereits auf die spätere universalhistorische Trias von Altertum – Mittelalter
– Neuzeit. So formulierte Joachim seine Naherwartung einer Zeitenwende, in
der das dritte Zeitalter des heiligen Geistes beginnen würde. Der Franziskanerge-
5 Gert Melville/Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter, Einrichtungsantrag an die Heidelberger
Akademie der Wissenschaften, 28.08.2008 (hier ohne die Fußnoten zitiert).
6 Gert Melville, Die Welt der mittelalterlichen Klöster. Geschichte und Lebensformen, München 2012.
7 Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter, hg. von Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter
(Vorträge und Forschungen 64), Ostfildern 2006.
Eine solch innovative Figurierung des klösterlichen Lebens führte zu einer
Neubestimmung der Wechselwirkungen von Individualität und Gemeinschaft, von
Transzendenz und Immanenz, von Normativität und Sinnstiftung, von (Eigen-)
Verantwortlichkeit und Führungsverpflichtungen, von Pragmatik des Lebens und
Idealen spiritueller Ziele. Die Grundsätzlichkeit, mit der hier aus klösterlicher Sicht
die konstitutiven Elemente von Mensch und Welt aufgegriffen worden waren, führte
rasch zur Überschreitung des Rahmens nur interner Diskurse und ließ Modelle
entwerfen, welche Geltung auch für das kirchliche und laikale Umfeld beanspruchten.
Klösterliche Gemeinschaften prägten somit in der Spanne vom 11. zum 13. Jahrhundert
die europäischen Vorstellungen von Gemeinschaftsbildung und Individualisierung
wesentlich mit. Sie lehrten Europa die Rationalität der Planung, der
Normsetzung, der formell geregelten Verfahrensabläufe, des Einsatzes pragmatischer
Schriftlichkeit, des Umgangs mit Eigentum und Besitzlosigkeit, der Arbeitsteilung,
der Güterzuweisung, der ökonomischen Betriebseffizienz. Sie erprobten
bei sich erfolgreich die rationale Gestaltung gesellschaftlicher Systeme und eröffneten
dadurch der europäischen Gesellschaft den Weg zu neuen Konstruktionen von
Staatlichkeit. Sie testeten die Grenzen der rationalen Erkenntnis durch die Technik
der scholastischen Dialektik aus und sprengten sie auf durch die individuellen Erfahrungen
der Mystik. Sie lehrten den Menschen eine verinnerlichte Ethik der Lebensführung
und vermittelten ihnen damit ein entscheidendes Orientierungswissen
im Umgang mit sich selbst und den Anderen; sie deuteten ihnen programmatisch
die Natur, das Leben und das Jenseits.« ⁵
Mittlerweile entfaltete Gert Melville solche Anfangsideen in seinem großen Buch
zur Welt der mittelalterlichen Klöster. ⁶ Die Gestaltung des Lebens, die Modelle zur
Einfügung des Individuums in die Gemeinschaft sowie die Entwürfe zur Deutung
von Welt, Natur und Heilsgeschichte – im Sinne fluider Ordnungskonfigurationen
verflochten ⁷ – lassen die innovative Kraft der hochmittelalterlichen vita religiosa
hervortreten. Zeitgenossen wie Joachim von Fiore († 1202/1205) oder Bonaventura
(† 1274) fingen die Dynamik ihrer eigenen Zeit in neuen Epochenmodellen ein. Sie
verweisen bereits auf die spätere universalhistorische Trias von Altertum – Mittelalter
– Neuzeit. So formulierte Joachim seine Naherwartung einer Zeitenwende, in
der das dritte Zeitalter des heiligen Geistes beginnen würde. Der Franziskanerge-
5 Gert Melville/Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter, Einrichtungsantrag an die Heidelberger
Akademie der Wissenschaften, 28.08.2008 (hier ohne die Fußnoten zitiert).
6 Gert Melville, Die Welt der mittelalterlichen Klöster. Geschichte und Lebensformen, München 2012.
7 Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter, hg. von Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter
(Vorträge und Forschungen 64), Ostfildern 2006.