360 | Bernd Schneidmüller
neral Bonaventura schichtete seine eigene Gegenwart als letztes Zeitalter (ultimum
tempus) der freiwillig Armen von einer ersten Zeit (primum tempus) der Apostel
und Apostelschüler und von einer mittleren Zeit (medium tempus) schriftkundiger
Männer ab. ⁸ Der innovative Charakter des 13. Jahrhunderts wurde also schon damals
in epochalen Ordnungsmodellen einer völlig neuen Zeit erfasst.
Welche Gegenwelten schafft sich eine Gesellschaft? Diese Frage durchzieht die
meisten Beiträge dieses Bands. Die Antworten der Reformorden seit dem ausgehenden
11. Jahrhundert legten die Sehnsüchte der Menschen nach dem richtigen Weg
zu Gott offen. Die ungeheuren Erfolge der Zisterzienser und der Prämonstratenser
im 12. Jahrhundert sowie der Bettelorden im 13. Jahrhundert sind Spiegel der Problemfelder
in Welt und Amtskirche. Die alternativen Lebensentwürfe, die das Individuum
über den Tag wie durch das Leben leiteten und die Gemeinschaft in jeglicher
Hinsicht durch präzise Verordnungen regulierten, wiesen weit über das Bestehende
hinaus. Rationalisierung, Formalisierung, Verschriftlichung, Aktualisierung – das
waren die Leitlinien des Wechsels. Er wurde von virtuosen Charismatikern eingeleitet
und von den vielen »einfachen« Mönchen wie Nonnen gestaltet.
In einer Zeit vor der Gnadentheologie des 16. Jahrhunderts forderte die vita religiosa
beständig höchste Anstrengung und größte Hingabe. Wenn sich Gott schon
nicht zur Welt neigte, so mussten sich Körper, Geist und Seele eben zu ihm strecken.
Die Sehnsucht nach Nähe zu Gott im Kloster forderte bei Zisterziensern,
Kartäusern oder Franziskanern gewaltige Leistungen des Individuums wie der Gemeinschaft
ein (Ulrich Köpf, Tim Johnson). Deshalb galt die Fürsorge der Reformer
auch und gerade dem Körper (»monastic body«, Jacques Dalarun), während
die Individualisierung der Gotteserfahrung in der Gemeinschaft die Seele zum Haus
Gottes oder das Herz zur Kammer Gottes erwachsen ließ (Mirko Breitenstein).
Individuum und Gemeinschaft – dieses Spannungsverhältnis durchzieht die gesamte
Geschichte des Coenobitentums und brachte beständig neue Formen von
Inklusion und Exklusion hervor (Hedwig Röckelein). Dieser Zwang zur Ent-Individualisierung
musste von jeder Generation neu bewältigt werden, wenn der eigene
Wille zur Zelle und die Welt zum Kloster wurde (Steven Vanderputten). Die Fülle
der Überlieferung lässt den vermeintlichen Siegeszug von Disziplinierung und
Konformität eher erkennen, weil Individualisierung als Devianz stigmatisiert wurde
8 Belege zu solchen mittelalterlichen Epochenkonzepten bei Achim Thomas Hack, Das Mittelalter als
Epoche im Schulbuch. Periodisierung und Charakterisierung, in: Das Bild des Mittelalters in europäischen
Schulbüchern, hg. von Martin Clauss/Manfred Seidenfuss, Berlin 2007, S. 85 –116; Bernd
Schneidmüller, Grenzerfahrung und monarchische Ordnung. Europa 1200 –1500 (C. H. Beck
Geschichte Europas), München 2011, S. 31–37.
neral Bonaventura schichtete seine eigene Gegenwart als letztes Zeitalter (ultimum
tempus) der freiwillig Armen von einer ersten Zeit (primum tempus) der Apostel
und Apostelschüler und von einer mittleren Zeit (medium tempus) schriftkundiger
Männer ab. ⁸ Der innovative Charakter des 13. Jahrhunderts wurde also schon damals
in epochalen Ordnungsmodellen einer völlig neuen Zeit erfasst.
Welche Gegenwelten schafft sich eine Gesellschaft? Diese Frage durchzieht die
meisten Beiträge dieses Bands. Die Antworten der Reformorden seit dem ausgehenden
11. Jahrhundert legten die Sehnsüchte der Menschen nach dem richtigen Weg
zu Gott offen. Die ungeheuren Erfolge der Zisterzienser und der Prämonstratenser
im 12. Jahrhundert sowie der Bettelorden im 13. Jahrhundert sind Spiegel der Problemfelder
in Welt und Amtskirche. Die alternativen Lebensentwürfe, die das Individuum
über den Tag wie durch das Leben leiteten und die Gemeinschaft in jeglicher
Hinsicht durch präzise Verordnungen regulierten, wiesen weit über das Bestehende
hinaus. Rationalisierung, Formalisierung, Verschriftlichung, Aktualisierung – das
waren die Leitlinien des Wechsels. Er wurde von virtuosen Charismatikern eingeleitet
und von den vielen »einfachen« Mönchen wie Nonnen gestaltet.
In einer Zeit vor der Gnadentheologie des 16. Jahrhunderts forderte die vita religiosa
beständig höchste Anstrengung und größte Hingabe. Wenn sich Gott schon
nicht zur Welt neigte, so mussten sich Körper, Geist und Seele eben zu ihm strecken.
Die Sehnsucht nach Nähe zu Gott im Kloster forderte bei Zisterziensern,
Kartäusern oder Franziskanern gewaltige Leistungen des Individuums wie der Gemeinschaft
ein (Ulrich Köpf, Tim Johnson). Deshalb galt die Fürsorge der Reformer
auch und gerade dem Körper (»monastic body«, Jacques Dalarun), während
die Individualisierung der Gotteserfahrung in der Gemeinschaft die Seele zum Haus
Gottes oder das Herz zur Kammer Gottes erwachsen ließ (Mirko Breitenstein).
Individuum und Gemeinschaft – dieses Spannungsverhältnis durchzieht die gesamte
Geschichte des Coenobitentums und brachte beständig neue Formen von
Inklusion und Exklusion hervor (Hedwig Röckelein). Dieser Zwang zur Ent-Individualisierung
musste von jeder Generation neu bewältigt werden, wenn der eigene
Wille zur Zelle und die Welt zum Kloster wurde (Steven Vanderputten). Die Fülle
der Überlieferung lässt den vermeintlichen Siegeszug von Disziplinierung und
Konformität eher erkennen, weil Individualisierung als Devianz stigmatisiert wurde
8 Belege zu solchen mittelalterlichen Epochenkonzepten bei Achim Thomas Hack, Das Mittelalter als
Epoche im Schulbuch. Periodisierung und Charakterisierung, in: Das Bild des Mittelalters in europäischen
Schulbüchern, hg. von Martin Clauss/Manfred Seidenfuss, Berlin 2007, S. 85 –116; Bernd
Schneidmüller, Grenzerfahrung und monarchische Ordnung. Europa 1200 –1500 (C. H. Beck
Geschichte Europas), München 2011, S. 31–37.