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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0048
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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Ein selbständiges großes Geschichtsbild hat in unserem Zeitalter außer Spengler
und Toynbee Alfred Weber7 entwickelt. Seine universale Geschichtsanschauung, seine
Kultursoziologie, bleibt trotz seiner Neigung, die Ganzheiten der Kulturen zum Ge-
genstand der Erkenntnis zu machen, in der Tat ungemein offen. Unter Führung seiner
hellsichtigen Geschichtsintuition mit einem unbeirrbaren Sinn für den Rang der gei-
stigen Schöpfungen entwirft er den Geschichtsprozeß derart, daß weder die Zerstreut-
heit in unbezogene Kulturorganismen, noch die Einheit der Menschheitsgeschichte
als solche ihm zum Prinzip wird. Aber tatsächlich entsteht ihm die Gestalt eines uni-

nicht die blinde Notwendigkeit biologischer Lebensalter und des Sterbens. Was geschehen wird,
liegt auch noch an der menschlichen Freiheit. Und Gott kann helfen.
Spengler hält darauf, daß er - wie er meint, als erster - methodisch die geschichtliche Prognose
stelle mit der Gewißheit eines Astronomen. Er sagt den Untergang des Abendlandes voraus. Viele
fanden bei ihm begründet, was sie in ihrer Stimmung schon mitbrachten.
Gegen sein geistreiches Bild in dem zwischen Willkür und Plausibilität schillernden Spiel der
Bezüge, in seiner diktatorischen Sicherheit sind grundsätzlich zwei Einsichten zu setzen: Erstens:
Spenglers Deuten in Symbolen, in Vergleichen und Analogien ist manchmal geeignet zur Charak-
teristik eines »Geistes«, einer Stimmung, aber es gehört zum Wesen allen physiognomischen Be-
stimmens, daß in ihm nicht methodisch eine Realität erkannt, sondern daß ins Unendliche ge-
deutet wird durch Möglichkeiten. Der anspruchsvoll auftretende Gedanke der »Notwendigkeit«
des Geschehens wird dabei verworren. Morphologische Gestaltfolgen werden kausal aufgefaßt,
Sinnevidenz als reale Geschehensnotwendigkeit. Spengler ist methodisch unhaltbar, wo er mehr
gibt als Charakteristik von Erscheinungen. Wenn in seinen Analogien manchmal wirkliche Pro-
bleme stecken, so werden sie doch erst klar, wenn das Gesagte kausal und partikular durch eine
Untersuchung prüfbar wird, nicht schon im physiognomischen Blick als solchem. Das Spieleri-
sche, das im Besonderen immer das Totale zu Griff zu haben meint, ist zu verwandeln in Bestimmt-
heit und Begründbarkeit, wobei man dann auf Einsicht in das Ganze verzichten muß.
Dann hört die Substantiierung oder Hypostasierung von Kulturganzheiten auf. Es gibt nur
Ideen ein es relativen geistigen Ganzen und Schemata solcher Ideen in idealtypischen Konstruk-
tionen. Diese können aus | Prinzipien eine große Mannigfaltigkeit von Erscheinungen in einen 342
Zusammenhang bringen. Aber sie bleiben immer im umgreifenden Ganzen, vermögen nicht ein
solches Ganzes wie einen Körper total in die Hand zu nehmen.
Zweitens ist gegen Spenglers absolute Trennung beziehungslos nebeneinander stehender Kul-
turen hinzuweisen auf die empirisch feststellbaren Berührungen, Übertragungen, Aneignungen
(Buddhismus in China, Christentum im Abendland), die für Spengler nur zu Störungen und Pseu-
domorphosen führen, in der Tat aber Hinweise auf ein Gemeinsames im Grunde sind.
Was zwar diese Einheit im Grunde sei, ist für uns unendliche Aufgabe sowohl der Erkenntnis
wie der praktischen Verwirklichung. Jede bestimmt gefaßte Einheit - etwa biologische Artung,
das allgemeingiltige Verstandesdenken, gemeinsame Eigenschaften des Menschseins - ist nicht
die Einheit schlechthin. Die Voraussetzung, der Mensch sei der Potenz nach überall derselbe, ist
ebenso richtig, wie die entgegengesetzte, daß der Mensch überall verschieden sei, differenziert bis
in die Besonderheit der Individuen.
Zur Einheit gehört jedenfalls das Verstehenkönnen. Spengler leugnet dieses: die verschiedenen
Kulturreiche sind abgründig verschieden, für einander unverstehbar. Wir z. B. verstehen die alten
Griechen nicht.
Gegen dieses Nebeneinander des sich ewig Fremden steht die Möglichkeit und die teilweise
Wirklichkeit des Verstehens und Aneignens. Was immer Menschen denken und tun und hervor-
bringen, es geht die anderen an, es handelt sich zuletzt irgendwie um dasselbe.
 
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