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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0088
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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schichte bewirkt, zerstört am Ende den Menschen; die Geschichte ist ein Vernich-
tungsprozeß in der Erscheinung eines vielleicht grandiosen Feuerwerks; es ist wieder
rückgängig zu machen, was am Anfang geschehen ist; am Ende wird der Mensch in die
seligen Zustände seines vorgeschichtlichen Seins zurückkehren.
Oder der Sprung ist das große Geschenk des Menschseins, und, daß der Mensch
ihn tat, sein hohes Schicksal, sein Weg zu unerhörten Erfahrungen und zu einem Auf-
stieg, der aus seinem Unvollendetsein vorantreibt. Der Mensch ist durch Geschichte
zu dem Wesen geworden, das über sich hinausdrängt. Erst in | der Geschichte hat er
seine hohe Aufgabe ergriffen. Niemand weiß, wohin sie ihn führen wird. Auch das Un-
heil und die Not können ihm zum Aufschwung dienen. In der Geschichte erwächst
erst, was der Mensch eigentlich ist:
a) Aus dem Anfang fließt der Strom seiner ihm mitgegebenen substantiellen Möglich-
keiten. Aber diese selbst werden erst reich, voll, offenbar, indem sie in die Bewegung
der Geschichte treten, sich erhellen, bewähren, steigern, verlorengehen, erinnert wer-
den, neu emporsteigen. Sie bedürfen der Rationalisierung, die selber gar nicht das Pri-
märe ist, sondern das Medium des Offenbarwerdens der Ursprünge und Endziele.
b) Mit dem Sprung zur Geschichte wird die Vergänglichkeit bewußt. Alles in der Welt
hat seine Zeit und muß versinken. Nur der Mensch weiß um seinen Tod. Im Rückstoß
an dieser Grenzsituation erfährt er die Ewigkeit in der Zeit, die Geschichtlichkeit als
Erscheinung des Seins, in der Zeit die Tilgung der Zeit. Sein geschichtliches Bewußt-
sein wird identisch mit Ewigkeitsbewußtsein.
c) Die Geschichte ist ein ständiges Vorandringen einzelner Menschen. Sie rufen die an-
deren, ihnen zu folgen. Wer sie hört und versteht, tritt mit ein in die Bewegung. Aber die
Geschichte bleibt zugleich das bloße Geschehen, in dem es ständig wie ein vergebliches Ru-
fen, ein Absacken und Nichtfolgen ist. Ein ungeheures Schwergewicht scheint alle Auf-
schwünge immer wieder zu lähmen. Die gewaltigen Massenkräfte mit ihren Durch-
schnittseigenschaften ersticken, was ihnen nicht entspricht. Was in ihnen nicht Raum
und Sinn gewinnt zur Verwirklichung des Massenhaften, und was keinen Glauben fin-
det, muß verschwinden. Die Geschichte ist die große Frage, die noch unentschieden ist
und die durch keinen Gedanken, sondern allein durch die Wirklichkeit selbst entschie-
den werden wird, ob die Geschichte in ihrem Aufschwung ein bloßer Zwischenaugen-
blick ist zwischen ungeschichtlichen Zuständen oder ob sie der Durchbruch der Tiefe ist,
die in Gestalt auch grenzenlosen Unheils, unter Gefahr und unter immer erneutem
Scheitern, im Ganzen dazu führt, daß das Sein durch den Menschen offenbar wird, er
selbst in unabsehbarem Aufschwung seine nicht vorher wißbaren Möglichkeiten ergreift.

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| c. Das Gemeinsame und die Unterschiede der alten Hochkulturen 73
Die gemeinsamen Grundzüge - große Organisationen, Schrift, führende Bedeutung
der Schreiberschicht - lassen einen Menschen entstehen, der bei raffinierter Zivilisa-
 
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