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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0118
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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Wissenschaftlich weiß ich nur, was ich zwingend gewiß weiß.41 So weiß ich auch die
Ungewißheit, die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit.
Wissenschaftlich weiß ich nur, was allgemeingiltig ist. Weil die Einsicht von jedem
Verstand zwingend erfahren werden kann, breiten sich wissenschaftliche Erkenntnisse
aus und bleiben sich dabei im Sinne gleich. Einmütigkeit ist ein Kennzeichen der All-
gemeingiltigkeit. Wo Einmütigkeit aller Denkenden durch die | Zeiten hindurch nicht 112
erzielt wird, da ist die Allgemeingiltigkeit fraglich.
Wissenschaft aber unter diesen Kriterien gab es schon innerhalb der griechischen
Wissenschaften, wenn auch ihre reine Herausarbeitung eine bis heute unvollendete
Aufgabe ist. Was ist unter Bewahrung dieser drei Momente die moderne Wissenschaft?
1) Die moderne Wissenschaft ist ihrem Geist nach universal. Es gibt nichts, das sich
ihr auf die Dauer zu entziehen vermöchte. Was in der Welt vorkommt, wird der Beob-
achtung, Befragung, Untersuchung unterworfen, ob es Tatsachen der Natur, Handlun-
gen und Aussagen der Menschen, ihre Schöpfungen und Schicksale sind. Auch die Re-
ligion, jede Autorität wird untersucht. Und nicht nur jede Realität, sondern auch jede
Gedankenmöglichkeit wird zum Objekt. Es gibt keine Grenze des Fragens und Forschens.
2) Die moderne Wissenschaft ist grundsätzlich unfertig. Die Griechen kannten nicht
die grenzenlos fortschreitende Wissenschaft, auch dort nicht, wo sie eine Zeitlang fak-
tisch fortschritten in Mathematik, Astronomie, Medizin. Selbst die Forschung hatte bei
den Griechen den Charakter, innerhalb eines Vollendeten zu operieren. Dieser Charak-
ter eines Fertigseins kennt weder das universelle Wissenwollen noch die sprengende
Kraft des Wahrheitswillens. Die Griechen bringen es einerseits nur zu Reflexionen
grundsätzlichen Zweifels seit der Zeit der Sophistik, andrerseits zum gelassenen Spiel
einer Erkenntnis besonderer Dinge, mag diese auch so großartig sein wie bei Thukydi-
des, Euklid,42 Archimedes. Die moderne Wissenschaft ist bewegt von der Leidenschaft,
an die Grenzen zu gelangen, durch alle abschließenden Gestalten des Wissens hin-
durchzubrechen, immer wieder alles von den Grundlagen her zu revidieren. Daher die
Umschläge im Durchbruch und zugleich die Bewahrung des faktisch Erworbenen als
Glied des neuen Entwurfs. Es herrscht ein Bewußtsein des Hypothetischen, das heißt
der Voraussetzungen, von denen man jeweils ausgeht. Alles ist dazu da, überwunden
zu werden (denn die Voraussetzungen werden durch umfassendere Voraussetzungen
begründet und relativiert), oder wenn es Tatbestände sind, mit ihnen weiterzuschrei-
ten in der Kontinuität wachsender und tiefer dringender Erkenntnis.
| Dieses stets unfertige Erkennen ist seinem Sinn nach auf etwas gerichtet, das be- 113
steht und das vom Erkennen entdeckt wird. Während aber das Erkennen grenzenlos
vorandringt, vermag es doch den ewigen Bestand des Seins im Ganzen nicht zu erfas-
sen. Anders: es ist durch die Unendlichkeit des Daseienden, gerichtet auf das Sein, das
es doch niemals erreicht, - und es weiß das durch Selbstkritik.
Weil der Erkenntnisinhalt grundsätzlich ungeschlossen und unschließbar ist (im
Gegensatz zum griechischen Kosmos), liegt im Sinn dieser Wissenschaft das grenzen-
 
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