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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0135
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

Diese Entwicklung war nur möglich auf Grund der modernen exakten Naturwissen-
schaften. Diese brachten Erkenntnisse und Möglichkeiten, die der früheren Mechanik
völlig fremd waren. Vor allem wurde die Entwicklung der Elektrizitätslehre und der Che-
mie eine unerläßliche Voraussetzung der neuen technischen Wirklichkeiten. Das zu-
nächst Unsichtbare, erst der Forschung sich Zeigende, brachte in die Hand des Men-
schen jene fast grenzenlosen Energien, mit denen heute auf dem Planeten operiert wird.
Um aber die Erfindungen herauszuheben aus dem Spiel der Muße oder eines vor-
nehmen Luxus und sie wirtschaftlich zu realisieren und damit erst zum Faktor des
menschlichen Daseins zu machen, dazu bedurfte es einer weiteren Voraussetzung. Die
moderne gesellschaftliche Freiheit - die keine Sklaven kannte und den freien Wettbe-
werb auf eigenes Risiko zuließ - brachte wagemutigen Unternehmern die Möglichkeit,
das Unwahrscheinliche und den Meisten als unmöglich Erscheinende zu versuchen.
Dazu diente erstens der Kredit, der den Fähigen die Geldmittel in einer Höhe zur Ver-
136 fügung stellte, die früher der | Reichste nicht gehabt hätte, und zweitens eine Arbeits-
organisation mit freien Arbeitskräften, welche, zu jeder erforderlichen Arbeitsleistung
auf dem »Arbeitsmarkt« erhältlich, bei festgesetztem Vertragslohn in der Kalkulation
einen voraussehbaren Kostenanteil des Unternehmers darstellten. Und zu beiden ge-
hörte ein berechenbares Recht, das die Einhaltung der Verträge erzwingt.
So entstand im Abendland die technisch-wirtschaftliche Schlacht der Unterneh-
mer des 19. Jahrhunderts, in der das alte Handwerk bis auf unentbehrliche Reste un-
terging und jeder, der technisch Nutzloses tat, erbarmungslos vernichtet wurde. Auch
die besten Gedanken konnten zwar zunächst scheitern. Auf der anderen Seite aber ge-
langen märchenhafte Erfolge. In diesem Prozeß fand eine Auslese statt durch die Be-
währung am Erfolg. Wer nicht leistete, was die Sache erforderte, machte Bankrott oder
wurde an seiner Arbeitsstelle gekündigt. Wenigstens für eine Weile - im Anfang dieser
schaffenden Unternehmungen - geschah eine Auslese der Tüchtigsten.
In der Entstehung der modernen technischen Welt hängen also unlösbar zusam-
men: die Naturwissenschaft, der Erfindungsgeist, die Arbeitsorganisation. Diese drei
Faktoren haben gemeinsam die Rationalität. Keiner von ihnen könnte allein die mo-
derne Technik verwirklichen. Jeder dieser drei hat einen eigenen Ursprung, ist daher
Quelle von Problemen, die unabhängig ihren eigenen Weg gehen:
1) Die Naturwissenschaft bringt ihre Welt ohne Hinblick auf Technik hervor. Es gibt
außerordentliche naturwissenschaftliche Entdeckungen, die, wenigstens zunächst
und viele vielleicht für immer, technisch gleichgültig bleiben. Auch die an sich tech-
nisch brauchbaren wissenschaftlichen Entdeckungen sind keineswegs ohne weiteres
anwendbar. Sie bedürfen noch des technischen Einfalls, um nützlich zu werden. Erst
Morse55 machte den Telegraphen. Es gibt kein voraussehbares Verhältnis zwischen Wis-
senschaft und Technik.
2) Der Erfindungsgeist kann auch ohne die spezifisch moderne Wissenschaft Außer-
ordentliches leisten. Was die primitiven Völker geschaffen haben - z. B. den Bume-
 
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