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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0225
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

256 | Es ist verhängnisvoll, wenn man das als richtig Erkannte sofort durchsetzen will,
im Fall des Mißlingens nicht mehr mitmacht, im Trotz das Miteinanderreden abbricht,
zur Gewalt oder zur Vorbereitung der Gewalt greift.
Die augenblickliche Überlegenheit dessen, der auftrumpft, Gewalt androht, er-
preßt, erweist sich auf die Dauer als Schwäche und ist jedenfalls schuld an der Ver-
längerung oder am Scheitern des Weges. Es ist die außerordentliche Aufgabe, ohne
schwach zu werden, der Gewalt gegenüber zwar die Gewalt nicht zu vergessen, aber
ihre Anwendung bis zum Äußersten hinauszuschieben. Es gibt für den verantwort-
lichen Staatsmann keinen Prestigegrund für Gewaltanwendung, keinen Grund zu
einem Präventivkrieg, keinen Grund des Abbruchs der Verhandlungen. Es bleibt
die menschliche Sprache in jeder Situation - bis einer, der die Gewalt dazu hat, ab-
bricht und nun in dem Maße Verbrecher ist, als alle anderen Geduld hatten und
haben.
Es ist unberechenbar, was dabei in der Zukunft zu Hilfe kommt und was hemmt.
Die Situationen werden immer wieder anders. Selbst dem Böswilligen und Hinterhäl-
tigen gegenüber darf der Versuch nicht aufgegeben werden. Die Intoleranz muß ge-
duldig zur Toleranz geführt werden. Erst am Ende darf das Ziel stehen, daß jede Gewalt
als Verbrechertum unschädlich gemacht werden soll durch die eine gesetzliche Ge-
walt der Menschheit. Bis dahin ist der Besitzer großer Gewalt (nur die Größe unter-
scheidet ihn bei Anwendung vom Verbrecher) mit der Vorsicht und Geduld zu behan-
deln, die ihn vielleicht zum Freunde gewinnt. Wenn überhaupt, so kann das nur
gelingen, wenn die Anderen ruhig bleiben und jede geringste Möglichkeit der Aussöh-
nung nicht preisgeben.
Ein Beispiel, daß das Verlangen, das Richtige sofort zu verwirklichen, falsch wer-
den kann, ist vielleicht dieses: Das Vetorecht ist an sich ein UnheiL Seine Aufhebung
aber würde voraussetzen, daß alle Beteiligten auch im Ernstfall sich dem Mehrheits-
beschluß zu fügen bereit sind, daß sie wirklich in ihrem Ethos auf Souveränität ver-
zichtet haben, wie die Bürger innerhalb eines Staates. Dazu gehört wesentliche
menschliche Gemeinschaft, die im Verkehr sich in jeder Weise verwirklicht. Bevor
257 diese gewonnen ist, würde die Aufhebung des Vetorechts doch erfolglos sein. Denn |
wenn eine Großmacht sich einem Mehrheitsbeschluß und dessen Exekution wider-
setzt, so wäre das der Krieg.
Es ist das Erregende in der Teilnahme an den politischen Verhandlungen, soweit
sie öffentlich bekannt werden, zu sehen, wie diese Geduld Sprache findet, Wege sucht,
durch immer neue Einfälle das Miteinander wieder hervorruft. Es ist das Niederschla-
gende, zu sehen, wie gegen alle Vernunft, im Überhören der Tatbestände und Gründe,
im ständigen Abbruch des Miteinanderredens die Souveränität des Vetos zerschlägt,
was alle anderen aufbauen wollen.
Und großartig im Studium der Geschichte - besonders der Engländer, Amerikaner,
Schweizer - ist zu sehen, wie man Geduld hatte, sich überwand und sich noch im Haß
 
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