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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0263
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

Worin liegt die Einheit des bleibenden Wesens des Menschen, durch das überhaupt
erst Verstehbarkeit zwischen uns und unser Zueinandergehören möglich ist? Immer
wieder wird an der Einheit gezweifelt. Denn es ist in aller Geschichte ein Wandel des
menschlichen Wissens, Bewußtseins und Selbstbewußtseins. Es ist ein Hervorgehen
und Versinken geistiger Möglichkeiten, ein Fremderwerden und schließlich Unver-
ständlichwerden. Ist trotzdem Einheit darin? Jedenfalls als der uneingeschränkte Wille
zum Verstehen.
Wenn diese Einheit nicht aus der biologischen Anlage zu begreifen ist, weil ihr Sinn
im Biologischen gar nicht berührt werden kann, so muß sie einen anderen Grund ha-
ben. Was mit diesem Ursprung gemeint ist, das ist nicht eine biologische Artung und
Abstammung aus einer Wurzel, sondern das Menschsein als Einheit aus höherem Ur-
308 sprung. Nur im Symbol ist er für die Vorstellung vor Augen zu bringen: im Gedanken |
der Schöpfung des Menschen durch die Gottheit nach ihrem Bilde und des Sünden-
falls.
Dieser Ursprung, der uns Menschen insgesamt verbindet, uns zueinander drängt,
die Einheit uns ebensosehr voraussetzen wie suchen läßt, ist als solcher weder zu wis-
sen noch anzuschauen, noch als empirische Wirklichkeit vor uns.
Der Einwand gegen die Einheit durch Hinweis auf die angeborenen, außerordent-
lichen, im Leben sich abstoßenden, scheinbar radikal trennenden Verschiedenheiten
der Artung der einzelnen Menschen und Völker ist falsch, wenn er die in der letzten
Wurzel gelegene Verschiedenheit des Wesens der Menschen behaupten will, derart,
daß eine unüberbrückbare Kluft Menschen trennen müsse. So sehr in der Erscheinung
die trennenden Abgründe empfunden werden und der Kampf zwischen Wesensver-
schiedenen stattfindet oder die Gleichgiltigkeit des Aneinandervorbeigehens, so sehr
ist doch auch das mögliche Verbindende, in der Tiefe Schlummernde unüberhörbar.
Das Umgreifende bleibt die Wirklichkeit über alle bestimmt gewordene Wirklichkeit
hinaus. Es ist nie abzusehen, was unter neuen Bedingungen in neuen Situationen er-
weckt wird. Niemand kann unter einen Menschen einen Strich machen, als ob er be-
rechnen könne, was diesem möglich und was ihm nicht möglich sei. Noch weniger
können Völker oder Zeitalter endgiltig bestimmt werden. Was von Völkern und Zeit-
altern als einem Ganzen charakterisierbar ist, ist nie absolut herrschend. Denn es ist
jederzeit noch anders möglich. Was dem Einzelnen oder kleinen Kreisen gelingt,
braucht keineswegs allgemein aufgenommen und zu einem Charakterzug des gesam-
ten Volkes und seiner Kultur zu werden und gehört doch zu ihm. Aristarch’s Astro-
nomie (die kopernikanische Welt) blieb in Griechenland wirkungslos, so wie
Amenemhope’s Weisheit und Gottesglaube in Ägypten. So oft ist das Hohe wie abseits,
unverstanden, isoliert, und nur äußerlich aus jeweils besonderen zufälligen Gründen
zu wirkungslosem Ruhm oder zu Wirkung aus Mißverstand und Verkehrung gekom-
men. Man kann zweifeln an der eigentlichen Wirkung Platos in Griechenland, Kants
in Deutschland, außer in einem schmalen, allerdings großartigen geistigen Strom.
 
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