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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0279
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246

Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

herige Geschichte sich runden zu sehen. Sie scheint abgeschlossen und unwieder-
bringlich verloren, etwas völlig Neues müßte an die Stelle treten. Die Äußerungen vom
Ende der Philosophie, die in Epigonen und Historikern ihren Abschied nimmt, - vom
Ende der Kunst, die in Wiederholung alter Stile, mit Willkür und privaten Sehnsüch-
ten, mit dem Ersatz der Kunst durch technische Zweckformen sich verzweifelt im Ster-
ben gebärde, - vom Ende der Geschichte in jedem bisherigen Sinne überhaupt sind
330 uns geläufig geworden. | Nur im letzten Augenblick können wir noch als Verstehende
das schon fremd Werdende, das nicht mehr ist und nie mehr sein wird, vor Augen stel-
len, noch einmal aussprechen, was bald ganz vergessen sein wird.
Das nun scheinen durchweg unglaubwürdige Sätze, deren Konsequenz immer ein
Nihilismus ist, um Platz zu schaffen für etwas, von dem man nichts Rechtes zu sagen
weiß, aber vielleicht gerade darum um so fanatischer redet.
Demgegenüber ist die moderne Haltung, alle Totalbilder, auch solche negativen,
in die Schwebe zu bringen, alle möglichen Totalbilder vor unsere Phantasie zu brin-
gen, zu versuchen, wie weit sie treffen. Dabei wird sich jeweils doch ein umfassendes
Bild ergeben, in dem die anderen einzelne Momente sind, das Bild, mit dem wir leben,
unsere Gegenwart uns bewußt machen und unsere Situation erhellen.
In der Tat vollziehen wir jederzeit geschichtliche Gesamtanschauungen. Wenn aus
ihnen Schemata der Geschichte als mögliche Perspektiven erwachsen, so wird deren
Sinn verkehrt, sobald eine Totalanschauung sich für das wirkliche Wissen des Ganzen
hält, dessen Gang in seiner Notwendigkeit begriffen sei. Wahrheit erreichen wir nur,
sofern wir statt der Totalkausalität bestimmte Kausalitäten ins Unendliche erforschen.
Nur soweit etwas kausal begreiflich wird, ist es in diesem Sinne erkannt. Niemals ist die
Behauptung beweisbar, etwas gehe nicht kausal zu. Aber für unseren schauenden Blick
gibt es in der Geschichte die Sprünge des menschlichen Schaffens, das Offenbarwer-
den unerwarteter Gehalte, das Sichverwandeln in der Folge der Generationen.
Für jede Konstruktion eines Totalbildes gilt heute: sie muß empirisch bewährt sein.
Wir verwerfen Bilder von Ereignissen und Zuständen, die nur erschlossen sind. Begie-
rig schauen wir überall aus nach der Realität von Überlieferung. Was irreal ist, kann
sich nicht mehr halten. Was das bedeutet, sieht man etwa an dem extremen Beispiel,
daß Schelling noch ganz selbstverständlich an den sechstausend Jahren seit der Welt-
schöpfung festhielt, während heute niemand an den Knochenfunden zweifelt, die das
Dasein von Menschen jedenfalls durch mehr als hunderttausend Jahre beweisen. Der
331 Maßstab der Zeit für die Geschichte, | der damit auftritt, ist zwar äußerlich, aber er
kann nicht vergessen werden und hat Folgen für das Bewußtsein. Denn klar ist die ver-
schwindende Kürze der abgelaufenen Geschichte.
Die Totalität der Geschichte ist ein offenes Ganzes. Ihm gegenüber ist die empiri-
sche Haltung des geringen Tatsachenwissens sich bewußt, in ständiger Bereitschaft,
neue Tatsachen aufzufassen; die philosophische Haltung läßt jede Totalität einer ab-
soluten Weltimmanenz zusammensinken. Wenn Empirie und Philosophie sich gegen-
 
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