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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2006 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2006
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 6. Mai 2006
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Lachmann, Renate: Kulturkonzepte im Rußland des 20. Jahrhunderts
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6. Mai 2006

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WISSENSCHAFTLICHE SITZUNG
Frau Renate Lachmann hält einen Vortrag: „Kulturkonzepte im Rußland des 20.
Jahrhunderts“.
Die Diskussion um die Rolle der Tradition ist eines der zentralen Themen vor und
nach der Oktober-Revolution. In den Debatten über Kulturerbe und Kulturnihilis-
mus, an denen sich Historiker, Politiker, Literaturwissenschaftler, Philosophen und
Literaten beteiligen, treten Konzepte hervor, die an Positionen des 19. Jahrhunderts
anknüpfen und weitere Phasen der Kulturreflexion im sich verändernden Rußland
des 20. Jahrhunderts mitbestimmen. Der auch in Westeuropa rezipierte ‘Kulturstreit’
zwischen dem symbolistischen Dichter, Kulturphilosophen und klassischen Philolo-
gen Vjaceslav Ivanov und dem Literaturhistoriker Michail Gersenzon, der als „Brief-
wechsel zwischen zwei Zimmerwinkeln“ (1920) bekannt wurde, repräsentiert exem-
plarisch die beiden Pole der Diskussion. Während Gersenzon die radikale Emanzi-
pation von kulturellem Ballast (Wissen, Kunst) verficht, tritt Ivanov für Bewahrung
und (verehrende) Pflege der kulturellen Tradition ein. „Tabula rasa“ und „thesaurus“
sind die Metaphern, die wie die Abbreviatur der beiden gegensätzlichen Kulturkon-
zepte zu lesen sind: Gedächtniskultur versus Vergessenskultur. Weder dieser axiolo-
gisch ausgerichtete Intellektuellen-Disput noch der Versuch der Kulturtheoretiker
der Tartu-Moskauer Schule der 60er, den Antagonismus zwischen Bewahren und
Löschen in der Theorie eines Kulturmechanismus zu objektivieren, verweisen auf
jene älteren volkstümlichen Kultur-Vorstellungen mit ausgeprägt utopischen Zügen,
die in einem spezifisch russischen Sendungsbewußtsein gründen. In den sozialrevo-
lutionären Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts geht das volkstümliche, hetero-
doxe Gedankengut mit den historiosophischen Spekulationen der Intelligenzija eine
merkwürdige Verbindung ein. Ein Begriff (und sein Antipode) steht dabei im Vor-
dergrund und färbt die volkstümlichen Vorstellungen ebenso wie die der dominie-
renden Kulturinterpreten: pravda (Wahrheit und Gerechtigkeit) und krivda (Lüge
und Ungerechtigkeit). Die im Volksglauben verwurzelte Pravda-Idee ist eng mit dem
von der religiösen Staatsauffassung getragenen Sendungsbewußtsein verbunden, das
auf der Idee basiert, daß Moskau nach dem Fall von Konstantinopel 1453 dessen
Erbe sei. Das Ideal des gerechten, rechtgläubigen Herrschers, dessen Herrschaft allein
auf der Pravda beruht, ist in der Volkstradition verankert. Dieses Ideal gilt mit Peter
I. als verloren. In derVolksvorstellung haben die petrinischen Reformen die Abwen-
dung vom Ideal der Pravda bewirkt, während der bereits im 17. Jahrhundert erfolg-
te Abfall vom rechten Glauben mit den Reformern der russischen Rechtgläubigkeit
verbunden wird. Die Reform der Kirchenbücher infolge einer (philologischen)
Neulektüre der Hl. Schriften gilt als westlich beeinflußt (und daher als teuflisch) und
führt zu einem folgenreichen bis heute andauernden Schisma zwischen Reformkir-
che und Altgläubigen. Entscheidend bleibt bei letzteren das Festhalten am Pravda-
Ideal, am Ideal des wahren Herrschers, am Anti-Institutionalismus und am Sen-
dungsbewußtsein. Die Pravda-Idee geht im 19. Jahrhundert in den sozialrevolu-
tionären Konzepten eine Koalition mit Positionen des Marxismus und des
westlichen Sozialismus ein. Es entstehen Vorstellungen (ebenfalls mit utopischen
 
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